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Die Sterbereportage
Autor: Schreiber · Rubrik:
Phantastik

DIE STERBEREPORTAGE

"Man muß den Mut zu seinem privaten Irrsinn haben,
seinen Tod zu besitzen und zu vollstrecken."
(Carl Einstein, Bebuquin)


Die Segnungen des privatrechtlichen Fernsehens können wir nur in der Weise würdigen und verstehen, daß eben die Grenzen vom Diesseitigen zum Jenseitigen ebenso unverhohlen wie unauffällig überschritten und damit aufgehoben werden. Man könnte der Einfachheit halber irdische Besserwisser nachplappern und behaupten, es gebe eben keine Tabus mehr. Es scheint mir vielmehr so zu sein. daß der Mensch sich nicht nur in zunehmendem Maße selbst etabliert, sondern auch negiert. In diesem Phänomen bündeln sich philosophisch-wirtschaftliche Interessen-Verflechtungen bis zur Nutzenanalyse metaphysischer Ergriffenheit.
Ich kenne ein Land, in dem die Telekommunikation ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat: jedenfalls wird hier das letztmögliche menschliche Thema aufgegriffen und mit spektakulärer Unschuld in die Wohnstuben ausgestrahlt. Als vor kurzem bei guten Bekannten ein älteres Familienmitglied zum intensiven Pflegefall erklärt wurde, stand ein Herr vom Fernsehen vor der Haustür, noch ehe sich die Familie traditionsgemäß auf einen potentiell-baldigen Trauerfall einzugewöhnen begonnen hatte. Dieser Herr vom Fernsehen erklärte, daß sich televisionäre Authentizität überhaupt nur noch steigern lasse durch den Verkauf des Todes der Bürger dieses Landes in einer Fernsehserie.
Meine Bekannten hatten vom geplanten Beginn dieser Fernsehserie gelesen, sich aber nie sonderlich Gedanken darüber gemacht, wie sie in der Praxis funktionieren sollte. Noch ehe sie nun aber Depressivitat vorschütten konnten, erklärte ihnen der flotte Medienvertreter, daß die Produktionskosten ohne Schwierigkeiten hereinkämen - und was spräche mehr für diese Unternehmung. Es muß leichtfertige Unachtsamkeit seitens meiner Bekannten gewesen sein: jedenfalls saß man beisammen im Wohnzimmer und der unnachgiebig lächelnde Herr führte weiter aus, daß das Faszinierendste an dieser Serie wohl sei, daß es sich um ungeschnittene Live-Übertragungen handele. Das Fernsehen sei dabei, den Kampf gegen die Langeweile zu gewinnen, denn nichts sei heutzutage so interessant, als anderen Menschen beim Sterben zuzusehen. Dem einzigen schwachen Einwand meines Bekannten, daß es dies doch bei Spielfilmen oft genug gebe, entgegnete der für solche Situationen und Fangfragen natürlich bestens geschulte Herr vom Fernsehen mit bereits erkennbarer Routine: die Angelegenheit werde nun quasi postnaturalistisch angepackt. Die Realität übertreffe sozusagen die abstrakte Wahrheit. Industrie, Medienvertreter und Kunstkritiker seien sich einig: die Sterbereportage in Serie sei nun endlich das Gesamtkunstwerk schlechthin, um das man seit Jahrhunderten gerungen habe. Hier würden alle Ansprüche ideeller wie pragmatischer Art erfüllt. Auch Politik und Kirche seien aufgeschlossen.
Ich kenne ja meine Bekannten und war nicht überrascht, daß es am selbigen Abend noch zu einem Vertragsabschluß kam. Man vereinbarte einen heißen Draht, damit zur wahrscheinlich entscheidenden Zeit ein Kamerateam am Ort des letzten Geschehens sein könne.
Nun zog sich die Krankheit der älteren Verwandten meiner Bekannten um einiges hin, so daß wir alle Zeit hatten, uns zunächst quasi theoretisch und als eigentlich Unbeteiligte in die mittlerweilen gestartete Serie einzugewöhnen. Ich muß nämlich endgültig zugeben, daß ich dieses Land mit seiner letztmöglichen telekommunikativen Pioniertat nicht nur kenne, sondern in ihm lebe. Und ich vermute, wir alle leben schon dort. Immerhin hatte ich ein makabres Interesse entwickelt und besuchte meine Bekannten nun öfter, wir verfolgten auch gemeinsam die Serie. Die Okkupation der besten Sendezeit war offensichtlich überhaupt kein Problem gewesen. Nachdem Staat und Wirtschaft ohnehin am Sterben schon verdient hatten, war es nur logisch und konsequent, hieraus strategisch eine allumfassende Wachstumsbranche zu entwickeln.
Ein gewiefter Moderator führte durch die Sendung, in der es weder an Unterhaltung noch an Gewinnchancen mangelte. Information, Show und Werbung waren eine unauflösbare Symbiose eingegangen. Pietät, Gruseleffekte und sogar Erotik rundeten das Konzept dieser konkurrenzlosen Familienserie ab. Bei Live-Schaltungen zu Requiem und Obduktion ergaben sich sehr spezifisch-voyeuristische Momente. Das ganz Besondere aber war die Dramaturgie des open-end: die berechenbare Eskalation zum wievielfachen sudden-death, Die Kameras standen ja in mindestens zehn Sterbezimmern, weder die Experten noch die Sterbenden selbst wußten ja zuverlässig, wann es zum entscheidenden Moment des Exitus kommen würde, der möglichst live - und nur im Ausnahmefall als Aufzeichnung (was vertragsgemäß finanzielle Regreßansprüche der Angehörigen zur Folge haben mußte) - übermittelt werden sollte. Der spezielle Nervenkitzel des zeitgleichen Miterlebens läßt sich eben durch nichts ersetzen.
Es war eigentlich fast zufällig, daß ich nun bei meinen Bekannten saß, als die ältere Angehörige mit neun anderen über das Land verteilt auf Sendung genommen wurde. Wir saßen beieinander, eher betreten als etwa trauernd - und die Frau meines Bekannten stellte sogar ein Schälchen mit gesalzenen Erdnüssen zu der Flasche Wein, die mein Bekannter wenige Minuten vorher geholt hatte. Dann kauerten wir allerdings äußerst verkrampft vor dem Bildschirm und waren uns unserer Regungen eigentlich nie sicher.
"Vielleicht hätten wir doch hinfahren sollen, um ihr beizustehn. Was wird sie von uns denken."
"Nein, nicht doch. Als wir das letzte Mal bei ihr waren, hat sie uns doch gar nicht mehr richtig wahrgenommen. Wahrscheinlich würden wir den Ärzten und Kameraleuten nur im Weg stehen."
Nach diesem Austausch von Besorgnis und Beschwichtigung bei meinen Bekannten saßen diese fast apathisch auf ihrer Couch, und ich stellte mir die Erdnüsse aufs Knie. Die Sendung lief professionell ab. In gewissen Zeitabständen begegneten sich Diskussionsrunden unterschiedlicher Zusammensetzung. Kirchen- und Versicherungsvertreter, Parapsychologen, organisierte Organspender, diverse Vorstands- oder Gewerkschafts-Mitglieder einschlägiger Verbände wie etwa die GHE (Gesellschaft für Humanen Exitus) oder die KFZ (Krankenhäuser- und Friedhöfe-Zentralgewerkschaft). Es gelang übrigens dem Sender auch manchmal, einen Wiederbelebten zu präsentieren. Dann mußte aber möglichst auch ein Nihilist in der Runde mitdiskutieren - aus allgemein bekannten Proporzgründen.
Da wir mittlerweile bei der zweiten Flasche Wein waren, kam es uns schon selbstverständlich vor, daß alle paar Minuten mitten in die letzten Krämpfe der Sterbenden Werbespots eingeblendet wurden: Blumenläden, Grabsteinkonzerne, Kerzenhersteller, die Trauerbekleidungsbranche, Sargschreiner, Versicherungen, Gesangsvereine und Blaskapellen, die Gastronomie, Notariate und die Regenschirmhersteller drängten sich in die Sendeminuten-Plazierungen und boten den Hinterbliebenen unverhohlen für die nächste Gelegenheit ihre Dienste an. In der dritten Runde des Abends diskutierten Vertreter der Alternativszene: einer protestierte gegen das Verstreuen der Asche eines Feuerbestatteten über einem Feuchtbiotop, ein anderer forderte den biologisch abbaubaren Sarg. Sehr energisch äußerte eine Feministin ihre Befürchtung zum Voyeurismus männlicher Leichenwäscher. Mein Bekannter holte die dritte Flasche Wein, während seine Frau doch etwas zwischen Entrüstung und Ergriffenheit schwankte. Ich erinnere mich nur noch, daß in einer Konferenzschaltung ein Kirchenvertreter gegen das forcierte product-placement auf Intensivstationen angehen wollte. Und es gab eine Anzahl Anrufe betroffener Familien, damit "ihr Sterbender auf Sendung" bleibe. Daß die ältere Verwandte meiner Bekannten die Sendung "überlebt" hatte, erfuhr ich erst anderntags, als mich mein Bekannter anrief und mich beauftragte, die Kostenfrage zu klären. Ich bin nämlich dummerweise Rechtsanwalt - und diese nicht korrekt abgelaufene Sterbereportage konnte zu einem Prozeß führen. Immerhin waren die Zuschauer getäuscht worden. Es war klar, daß unser Prozeß nicht der einzige blieb.
Und während sich die Revisionen jagten, postierte das Fernsehen weiterhin seine Kameras in verschiedenen Hospitälern, ließ Grüße oder Flüche der Sterbenden an die Verwandtschaft über den Äther gehen und blendete nach dem letzten Aufbäumen eine Kontonummer für Kranzspenden ein. Besonders beliebt war die Auslosung eines Sterbenden pro Sendung, dem ein prominenter Politiker oder Popstar die letzten irdischen Grüße mit auf den Weg gab. Während ich in der dritten Revision um das Recht meines Mandanten (der er nun fast mehr ist als mein Bekannter) kämpfe - und auch schon die wiedergenesene ältere Verwandte verschiedentlich als Zeugin vernommen habe - wünsche ich mir nichts sehnlicher, als daß mein Tod dermaleinst per Satellit der ganzen Welt live übermittelt werden möge. Dann hätten nicht nur meine Mandanten bzw. Leser etwas davon.


Einstell-Datum: 2007-12-11

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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