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Klasse, Oma
Autor: Michael Felske · Rubrik:
Kurzgeschichten

Ihr Herz pochte bis zum Hals. Anja streckte ihre schlanken Finger und ballte sie zur Faust. Rechts trug die attraktive 43jährige Witwe noch den Ehering mit Brillanten. Dann suchte die linke Hand das „C“ auf der Keyboard-Tastatur. Mit dem Notebook neben dem Keyboard „kannst Du Nina Deine Musik sogar auf CD aufnehmen“, hatte ihre Tochter gesagt. Computer, Kamera und Musikinstrument waren ein Weihnachtsgeschenk von ihr. Seit dem spielte die Witwe ihrer Enkelin jeden Abend ein Lied zur guten Nacht. Und jedes Mal war Anja richtig aufgeregt. Das Notebook schnurrte jetzt leise zur Musik. Der Bildschirm spiegelte sich in den Fensterscheiben. Dort klopften die ersten Regentropfen aus dem Wetterbericht. Anja war allein.

Als Graminski draußen den Schraubenzieher aus der schwarzen Wachsjacke zog, begann Anja drinnen zu spielen. Ein schämisches Grinsen zog sich über sein Gesicht, als die Terrassentür mit einem Ruck aus dem Schloss sprang. Die Lederstiefel stanzten ihre nassen Abdrücke in den bauschigen Wohnzimmerteppich. Fahrig wischte er sich mit der linken Hand den Regen aus dem Gesicht und zog leise die Tür hinter sich zu. Dann sah er sich um. Er nickte. Im gelben Schein der beiden Stehlampen erkannte der Einbrecher sofort, hinter welchen Ölbildern sich der Safe befinden könnte. „Gelernt ist eben gelernt“, dachte er und schob den ersten Bilderrahmen zur Seite. Fehlanzeige. Weiter. Lange Zeit hatte Graminski Anja beobachtet. Sie und ihr Mann waren mit Sonnenstudios so richtig reich geworden. Beide führten ein Leben im wahren Luxus. Bis zum Unfall. Der Mann war sofort tot. Und Anja blind. Jetzt war sie das ideale Opfer für Graminski. Woanders war er lichtscheu. Das war hier im Wohnzimmer so überflüssig wie eine Gesichtsmaske. Leise ging er zum nächsten Kunstwerk. Blieb davor stehen und zuckte zusammen. „Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht...“ Ganz sanft und zärtlich klang Anjas Stimme durch die Esszimmertür ins Wohnzimmer zu Graminski. „Mist!“, zischte er leise vor sich hin. Hinter dem zweiten Bild war wieder nur Tapete. Weiter nichts. „Irgendwo muss der Safe doch sein.“ Dann eben hinter dem Sonnenblumengemälde. Graminskis Augen funkelten gierig. Er riss gleich das ganze Bild von der Wand. Die Tapete fehlte. „Treffer, versenkt“, dachte Graminski zuerst. Dann erst sah er den frischen Putz. Der Safe war verschwunden.

„...eines fehlet, an der ganzen großen Zahl. An der ga-anzen großen Zahl.“ „Klasse, Oma! Nochmal!“, rief Enkelin Nina jeden Abend. Deshalb spielte Anja das Liedchen gleich noch einmal. Jetzt kam sie so in Schwung und traf alle Töne auf Anhieb richtig.

Graminski durchwühlte jetzt das Schlafzimmer. Er stopfte ein bisschen Schmuck in die ausgebeulten Jackentaschen und fluchte leise dabei. Unterwäsche, Tops und Blusen lagen überall wild verstreut auf dem Parkettfußboden. Geld gab es hier auch nicht. Schweiß stand nun auf seiner Stirn. Das Gesicht puterrot. Wutschnaubend schoss Graminski durch den Flur rüber ins Esszimmer zu Anja. „Weißt Du wieviel...“, sang Anja gerade besonders liebevoll, als seine kräftige Pranke sie rücklings an der Schulter vom Stuhl auf den Boden zerrte. „Schluss! Jetzt singst Du für mich. Wo hast Du Deine Kohle versteckt? Los, sag´ schon!“ Er kniete dabei auf ihrer Brust. „Ich frage nicht zweimal. Und?“ Als die Finger seiner Hand sich wie Metall um ihren Hals schlossen, stach der Schmerz wie eine heiße Nadel durch ihren Kopf. Drinnen explodierten Sternchen. Dann wurde für sie die Welt ganz stumm und still. „Verdammt! Wach auf!“, schrie er sie an. „Aber ich schlafe doch noch gar nicht“, protestierte eine Kinderstimme aus dem Computer. Graminski sprang auf. Auf dem Bildschirm des Notebooks sah er ein kleines Mädchen im Nachthemd. „Warum schreist Du so?“, fragte ihn Nina jetzt. „Und wo ist eigentlich Oma? Mama telefoniert gerade.“ Als Graminski in die Web-Kamera an der Wand sah, huschten bereits uniformierte Gestalten um Anjas Haus.


Einstell-Datum: 2008-09-03

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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