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Max geht in die Politik
Autor: ArnoAbendschoen · Rubrik:
Erzählungen

Noch immer saß er im Kreistag und zwar für jene neue kleine Partei, die, wie Max selbst, mittlerweile in die Jahre gekommen war, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen. Er war zunächst nur Ersatzmann auf der Liste gewesen, indessen wirkte ein als scherzhaft deklarierter Bittgang zu einer Marienwallfahrtstätte überraschend schnell Wunder. Drei Kreisrätinnen seiner Partei wurden kurz hintereinander schwanger, und zwei davon schieden aus dem Rat aus, eine machte Platz für ihn. Er sah sich rasch verwickelt in jene unendlichen Intrigen um lokale Projekte und lokales Ansehen, um Pöstchen, Einladungen, Reisen, Sitzungsgelder und Nebeneinkünfte. Der Segen amtlicher Unterstützung ergoss sich, wenn auch oft nur in dünnem Strahl, über die Bedürftigen, und als ihr Organisator, Fürsprecher und professioneller Betreuer ging er dabei nicht vollkommen leer aus. So überstand er die Jahre und war bald über den Landkreis hinaus bekannt. Er schrieb Artikel, gab Interviews und wurde von den eigenen Leuten befehdet. Er konnte sich im Kreis nicht wirklich installieren und musste den Schwarzen und Gelben in der Großstadt dankbar sein, dass er beruflich dort unterkam. Sie sprachen ihn auf die politische Differenz an und erklärten ihm, als wäre es ihm etwas Neues, sie lebten in einer Demokratie. Ja, doch. Aber er fuhr noch immer mit dem Fahrrad oder der Ente in die Kreisstadt, den sperrigen Weidenkorb über dem Arm, wenn er das Kreishaus betrat, wie früher, doch neuerdings im Wechsel mit einem wirklich edlen Aktenköfferchen, und saß dann strickend im Plenum oder im Gesundheitsausschuss.

Er kam auf ihn zu, wie üblich beladen mit einer Vielzahl kleiner Gepäckstücke, von denen Manfred sogleich zwei ergriff. Dann musste er eines davon kurz abstellen, denn Max gab ihm nun an lang ausgestrecktem Arm die Hand. Seine Haltung hatte, trotz des vielen Gepäcks, etwas Unbeschwertes, nur sein Lächeln war unsicher und bittend. Er sagte Guten Tag und dass er sich freue, auf Hamburg, auf die Tage hier und mit ihm. Er sprach jetzt natürlich Hochdeutsch, doch mit merklichem Akzent. Sie traten den Weg zur U-Bahn an. Wer sie bei ihrer Begrüßung beobachtet hätte, Manfred, den emigrierten Franken, und Maximin, den nicht emigrierten Hessen, er würde nicht erraten haben, dass sie seit fünfzehn Jahren befreundet waren.

Seine Aufmachung verriet wieder einmal, welchen Reiz das Disparate auf ihn ausübte. Die schwarze, kantige Lederjacke entsprach dem Geschmack, wie er in den Bars herrschte, in denen er den Männerfang betrieb. Nur oberflächlich gesehen, passten dazu die alten zerbeult-verwaschenen Jeans. Hier war eben nicht Jacke wie Hose. Das streng wirkende Oberteil appellierte in Material und Schnitt an die Instinkte und Bedürfnisse von Sadomasochisten, während das Beinkleid, burschikos und salopp, von Wandertagen in den Alpen erzählte. Die braunen Halbstiefel konnten im Ausverkauf einer Frankfurter Boutique erstanden sein. Der weite Pullover aus leuchtend hellblauer Seide, ein wirklich schönes Stück, war selbst gestrickt. Und über allem das geliebte alte Palästinensertuch, mit dem Muster wie gewürfelter Schinkenspeck.

Max hüstelte immer wieder. Manfred fragte, wie er die Reise verkraftet habe.

„Danke, gut. Ich habe fast die ganze Zeit gelesen. Einen wirklich tollen Roman. Etwas über die Frankfurter Gesellschaft, die Proms, meine ich. Also, es geht vor allem um die Typen, die unter Wallmann hochgekommen sind. Sie tragen andere Namen, aber ich habe sie fast alle wiedererkannt. Schließlich bin ich selbst vor Ort Politiker.“

Was Manfred aufhorchen ließ, war allein der Ausdruck "vor Ort", mit dem er seinen Jargon seit dem letzten Besuch hier bereichert haben musste. Er stand, wie seine verschiedenen Kleidungsstücke zueinander, in einem gewissen Gegensatz zum Rest der Rede. Die neue Vokabel hieß übersetzt etwa so viel wie Volksnähe und sollte das empfindliche Gleichgewicht bewahren helfen.

„Ein Schlüsselroman also, Und mit welcher Absicht geschrieben?“

„Es ist rein satirisch. Ein Buch aus dem innersten Kreis, für Insider.“ Max lächelte hochbefriedigt. Es war ein etwas süßliches Lächeln, und es erschien erst seit wenigen Jahren gelegentlich auf seinem Gesicht. Es enthielt das Bewusstsein aller je erlittenen eigenen Niederlagen und ein Gefühl beinahe transzendenter Satisfaktion. Das Lächeln besagte zumindest folgendes: Dass ich die Anspielungen verstehe, beglückt mich geradezu. Ich habe viel gelitten, aber alles verstehen, heißt alles verzeihen, ja, denn ich bin einer von euch.

Natürlich drückte Maxim das im Gespräch etwas anders aus: „Richtig toll fand ich noch, wie sie alle auf einer Vernissage auftreten und sozusagen ihre Visitenkarte abgeben. Ihre kleinen Macken werden beschrieben, man sieht sie vor sich wie fotografiert. Verstehst du, wenn der Intendant die Gattin vom mächtigen XY schneidet und das von zwei anderen Lokalgrößen bemerkt wird und sie sich darüber mit nur einem Blick verständigen … Unnachahmlich.“ Er war jetzt wirklich beglückt. Er war, Doderer zu zitieren, in seinem Jenseits im Diesseits angelangt. Es war zuviel Diesseits in diesem Jenseits. Aber chacun à son goût.

Er hüstelte anhaltend und sagte auf Manfreds Nachfrage, es sei schon seit einigen Tagen wieder so, aber ohne Nachtschweiß. Darüber kam die U 2. Sie stiegen ein und hingen ihren sehr verschiedenen Gedanken nach.

Sie hatten sich auch in Hamburg kennen gelernt, sehr konventionell bei einer Dampferfahrt über die Alster und die Kanäle von Winterhude. Es war im August, bei einem dieser Massenauftriebe. Manfred kam von Berlin her, Max war noch Student und unterwegs in die Ferien, die er in Skandinavien verbringen wollte. Es waren nur Männer an Bord und unter ihnen ein hübscher, sehr junger Rheinländer, der im Schlachthof von Düsseldorf arbeitete und später Drogen aus Holland verschob. Damals waren sie alle noch sehr jung. Der Schlachthofbursche turnte wie ein verliebter Kater auf dem Deck herum, er kletterte aufs Bootsdach und legte sich flach hin, wenn eine der vielen niedrigen Brücken herankam. Er allein inmitten von so viel sexualisierter Männlichkeit gefiel Manfred oder dem, der er damals noch war. Plötzlich legte Manfred den Arm um Max. Als stud. psych. hätte der ihm erklären können, was eine Übersprunghandlung ist, aber Manfred begriff es ohnehin rasch und zog den Arm zurück. Diese ersten Minuten enthielten bereits den Kern ihrer gesamten späteren Geschichte. Ohne es genau bestimmen zu können, registrierte Manfred sehr Heterogenes, das sich zu einem für seinen Geschmack wenig Erfreulichen verband. Max war, wie er später herausfand, sehr verletzlich, schwach, ehrgeizig und zum Kämpfen bereit. Er selbst, Manfred, suchte reine Eindrücke in sich aufzunehmen. Der eine wollte sich eine Position in der Welt, der andere ein Bild von ihr verschaffen.

Als sie wieder an Land waren, lud Manfred ihn zum Essen ein. Später nahm er ihn mit in sein kleines, abscheuliches Hotel in St. Georg. Beide wollten sie die Nacht im Volkspark Altona verbringen. Um Geld zu sparen, hatte Max kein Zimmer genommen. Er legte sich einige Stunden mit auf Manfreds Bett und ruhte schon einmal für die kommende lange Nacht. Beide wuschen sich dann umständlich am Waschbecken. Eine Dusche hätten sie nicht, dafür seien sie billig, hatte der Wirt gleich nach der Ankunft gesagt.

Er fand Max gescheit und mit Sinn für Ironie begabt. Max verstand seine Scherze und erlaubte sich nur selten eigene. Vielleicht war es eine Art von versteckter Grausamkeit, die Manfred besonders aufmerksam sein ließ. Ihre geistreiche Unterhaltung war auch eine Art von Ersatz, ein Charakter, der umso deutlicher hervortrat, je produktiver ihr Verkehr wurde. Max besuchte ihn wiederholt in Berlin, Manfred lernte die kleine Stadt bei Frankfurt kennen. Sie wanderten wochenlang in Süddeutschland oder in den Schweizer Alpen.

Der Briefwechsel florierte. Max schrieb ihm nach einigen Jahren, er erlebe die eigene Persönlichkeit als stark verändert, er sei bösartiger geworden, verbissen kämpferisch. Er könne sich nicht mehr verlieren. Die Eierschalen waren von anderen zerbrochen worden. Als Heimerzieher war er zu schwach, aber er war nicht schwach genug: Als die Burschen ihn fragten, ob er andersherum sei, wollte er es nicht abstreiten und wurde infolgedessen entlassen. Er hatte vorübergehend viel freie Zeit. Später schrieb er, sein Verbrauch an Männern habe damals pro Jahr bei etwa hundert Exemplaren gelegen.

Er infizierte sich mit dem womöglich todbringenden Virus und erfuhr es früh genug. Er lebte ein Jahr abstinent und ging in die Politik. Ein Heißhunger auf Leben trieb ihn in immer neue Aktivitäten. Da waren die Partei, der Kreistag, die Ausschüsse, Ehrenämter und bezahlte Hilfstätigkeiten. Jahrelange Arbeit an einer Dissertation, die dann liegen blieb. Er kämpfte für die Rechte der Frauen, der Schwulen, der Flüchtlinge und der Gefangenen; für die Umwelt sowieso. Man sah ihn ab und zu im Fernsehen. Er kochte gern, buk sein Brot selbst und lernte die Taubstummensprache und dann auch noch Schwedisch: falls er einmal emigrieren müsste. Er besuchte Ausstellungen, die Oper, das Ballett. Er las, was man gelesen haben musste, "Gödel Escher Bach" und "The Leatherman’s Guide". Er hatte häufig Besuch und reiste selbst sehr viel. Er webte, strickte, schrieb Märchen, sang in einem Chor und malte in Öl. Er hing an seiner Familie und war zweimal Pate. Die Sucht nach Männern ließ sich nicht dauernd zurückdrängen. Er überfraß sich fortlaufend an neuen Eindrücken und kotzte sie schnell wieder aus. Er vergaß alles, selbst den Besuch, den man ihm vor kurzem gemacht hatte. Obwohl ständig getrieben und gehetzt, war er noch immer ziemlich gesund, bis auf diese umfassende Bulimie. Der Tod kam nicht näher, so schien es. Nur wenige hatten so viele Jahre überlebt.

Die Orte, von denen sie hergekommen waren, lagen nicht weit auseinander. Aber es schien jetzt nur so, als säßen sie nebeneinander in einer U-Bahn nach Eimsbüttel. In Wahrheit hockten sie auf zwei verschiedenen Sternen (immerhin derselben Galaxie) und entfernten sich mit zunehmender Geschwindigkeit voneinander. Noch gestikulierten sie, ohne sich dabei mitteilen zu können. Sollte das alles allein das Werk des Virus sein, hatte es zwei Lebenslinien so radikal auseinander streben lassen? Es war nur schwer vorstellbar, und eine andere Versuchsanordnung war nicht mehr möglich.

(Auszug aus einem unveröffentlichten Roman)


Einstell-Datum: 2010-07-13

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 3.333.333.333.33 (3 Stimmen)

 

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