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Santa Grotto
Autor: Christian Ertl · Rubrik:
Kurzgeschichten

Mr. Wilson kam mit einem großen Sack auf dem Rücken aus der Knightsbridge Tube, blieb stehen und sog die ungewöhnlich warme Winterluft der Großstadt ein. Der Boden war nass und rutschig, es hatte in der Nacht zuvor geschneit. Die Menschenmassen, die sich durch die Straßen Londons drückten, und die Temperaturen sorgten für eine unheilvolle Mischung der braunen Masse auf dem Boden, die noch ein paar Stunden zuvor reinster weißer Schnee war. Er prüfte, ob er ausrutschen würde, nickte zufrieden (die schwarzen Boots mit dem tiefen Rillenprofil waren eine gute Wahl) und schulterte seine Last, zupfte seinen Bart zurecht und machte sich auf zu Harrods. Die Menschen wunderten sich zu dieser Jahreszeit nicht über einen Mann in roten Klamotten, weißem Rauschbart und einem riesigen grün-braunen Sack auf dem Rücken. Die meisten machten ihm sogar Platz, so das er ohne große Schwierigkeiten (der Sack war irre schwer) auf das in unzähligen orangegelben Lichtern strahlende Gebäude zustapfte. Er ging an der Seite entlang, bog in die Brompton Road ein, machte noch einen Knick und blieb vor dem Eingang der Damenabteilung stehen. Ein kurzer Blick auf die Uhr unter seinen weißen Handschuhen sagte ihm 10 vor 10 Uhr. Also, noch ein paar Minuten, bis der Laden öffnete. Mr. Wilson achtete sorgfältig darauf, das die vorbeiziehenden Leute nicht an seinen Sack stoßen konnten. Nicht auszudenken, wenn jemand jetzt schon, einen Tag vor Weihnachten, durch einen dummen Zufall eines seiner Päckchen beschädigen würde. Das gäbe nur enttäuschte Gesichter, würde Julie, seine Frau, sagen. Die ganze Überraschung wäre futsch. „Nein“, sagte sie immer, „die Päckchen müssen ordentlich verpackt werden und niemand darf sie vor Weihnachten öffnen. Nicht mal Santa selbst.“
Der Seiteneingang war nicht sehr stark regfrequentiert, so konnte Mr. Wilson in Ruhe seine Zigarette zu Ende rauchen, ohne von lästigen Menschen oder noch nervenderen Kindern belästigt zu werden. Eine Mutter kam mit ihrem Spross, einer, so schätzte er, ungefähr achtjährigen Göre, auf ihn zu und fing irgendetwas von „Ach, ist das lieb, ein Weihnachtsmann“ und „sag artig guten Tag zu Santa, dann bringt er dir auch viiiele Geschenke“ zu brabbeln an. Er schnippte die Zigarette achtlos auf den Bürgersteig, was ihm einen abwertenden Blick der Frau einhandelte. Aber das Mädchen schaute mit leuchtenden Augen nur auf den riesigen Sack und Mr. Wilson setzte sein Santa-Lächeln auf.
„Na, kleines Mädchen. Wie heißt du denn?“
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, antwortete sie „Elisa.“
„Ok, Elisa.“ Er bemerkte den Angestellten durch die Tür, der mit dem Schlüssel ankam. Endlich, dachte er sich. „Also,“ er griff in den Sack und holte ein kleines Päckchen hervor. Elisa folgte seiner Hand und lächelte, als er ihr den bunten Würfel mit Schleifchen überreichte. „Das darfst du aber erst morgen öffnen. Versprochen?“ „Jaaaa.“ Sie hielt das Päckchen ihrer Mutter hin und sagte „ein Geschenk vom Weihnachtsmann. Hurra.“ Ihre Mutter ließ ein kurzes, gespieltes Lächeln aufblitzen und schob sich mit dem Mädchen an ihm in den Laden vorbei. Macht nichts, dachte er sich, ich bin mir sicher, das nicht nur Klein-Elisa eine Riesenfreude mit dem Präsent haben wird.
Der Angestellte fragte ihn, ob er mit tragen helfen sollte, aber Mr. Wilson lehnte ab. Er ging in den Laden, vorbei an lauter Zeug für Frauen (Handschuhe, Juwelen, Hüte) und steuerte den Fahrstuhl an. Unter einem Himmel aus silbernen Weihnachtskugeln wartete er vergnügt pfeifend auf den „ägyptischen“ Aufzug. Er musste wieder an Julie denken und ihm verging die gute Laune. Sie war schon eine anstrengende Person, dachte er, als die Türen aufglitten. Er wuchtete den Sack in den Fahrstuhl und drückte auf „4“. Wenn sie nur nicht immer so, na ja, wie soll er sagen, „NETT“ gewesen wäre.
Anfangs war es ja noch Ok, wenn sie sich besondere Mühe für seinen Geburtstag oder Namenstag oder Jahrestag oder was auch immer für Tage gab. Es machte ihm sogar ursprünglich Freude, wenn er von morgens bis abends von ihr verwöhnt wurde. Frühstück ans Bett, ein Ausflug ins Grüne, die „Überraschung“, wenn plötzlich alle Freunde und Verwandten hinter Büschen hervor kamen und lautstark „happy Birthday“ durch den Park brüllten, damit es ja auch der letzte Penner erfuhr (an diesem Tag beschloss er, sollte sie ihn noch mal in einen Park bringen, würde er erst in einige Büsche pinkeln). Romantische Ausflüge an Seen (er hatte dann immer einen höllischen Muskelkater vom Rudern) und romantische Candlelight-Dinner. Romantische Bars, romantische Liebesfilme, romantische Unterwäsche (so Zeug mit Rüschchen und Wollknäuel, einfach lächerlich), romantisch, romantisch... er musste sich zurückhalten, nicht sofort das Frühstück zu erbrechen. Nein, die Freude war nur gespielt und er sagte ihr das auch. So ein Geburtstag zum Beispiel ist doch immer das Gleiche. Nichts besonderes. Sie sollte nicht so viel Tamtam um ihn machen. Er schaffte es (nach ein paar Jahren), das sie sich zumindest bei ihm etwas zurück hielt, aber es änderte nichts daran, das sie immer so viel „Freude“ verbreiten musste. Da gab es ja noch die Geburtstage, Namenstage und was für sonstige „Scheißtage“ der Freunde und Bekannten.
Die Fahrstuhltür ging auf und er betrat den vierten Stock. Vorbei an den Kinderbüchern ging es zum Spielzeugland. Mr. Wilson steuerte allerdings zuerst die Umkleide an. Er musste sich beeilen. Nach ein paar Minuten kam er aus den Angestelltenräumen zurück und suchte sich den Weg zu seinem „Arbeitsplatz“. Er musste nicht lange suchen, den eine Traube Kinder wartete schon auf Santa. Als sie ihn erblickten, liefen einige zu ihm und begannen laut lachend und schreiend damit, an seiner Uniform und dem Sack zu zupfen. Er ermahnte sie mit einem „Hoho“ und erhobenem Zeigefinger und nahm unter einem Schriftband mit dem Wortlaut „Harrods Grotto 2000“ auf einem riesigen grünen Ledersofa Platz. Einige kleine als Elfen verkleidete Liliputaner, sie sollten die Helfer Santa Grottos spielen, trieben die Kinder zurück. Er hielt verkrampft an dem Sack fest, beinahe wäre das schwere Teil umgestürzt. Das hätte dramatisch enden können. So aber war alles gut. Er wuchtete den Sack zur Seite und sah, wie ein älterer Herr in Anzug auf ihn zusteuerte. Der Mann blieb vor ihm stehen und stellte sich als Mr. Al Fayed vor. Mr. Wilson hatte zwar keine Ahnung, wer dieser Fayed sein sollte, aber es wurde deutlich, das dieser Typ hier wohl was zu sagen hatte.
„Mr. Liebmann,“ sagte Fayed leise zu ihm „sorgen sie dafür, das jedes Kind glücklich hier raus geht. Und lassen sie sich Zeit, umso mehr kaufen dann die Eltern.“ Er drehte sich von Mr. Wilson weg und verkündete mit ausgebreiteten Armen zu den wartenden Kindern „Santa Grotto wird euch nun empfangen und jedes Kind bekommt ein Geschenk von ihm.“ Fayed schaute zu dem Sack, dann zu Wilson, noch mal zum Sack. Der Schweiß stand Wilson auf der Stirn, als der Mann im Anzug sagte „die Geschenke dürften wohl ausreichen. Ist das Geschenkpapier aus unserem Haus?“ Mr. Wilson dachte nicht lange nach. „Nein, ich habe die Geschenke zu Hause verpackt.“ Fayed blickte abschätzend auf ihn, sagte dann aber im Flüsterton „Na, dann. Sie haben sich ein paar Pfund extra verdient. Ich werde der Zahlstelle Bescheid geben.“ Mit einem zufriedenem Lächeln verschwand der (offensichtlich wichtige) Mann.
Nun, der Rest des Vormittags war für Wilson eine einfache Aufgabe. Ein Kind nach dem anderen wurde zu ihm gebracht, er fragte immer nach dem Namen, ob es auch artig gewesen sei, was sie sich wünschten und gab ihnen dann eines seiner Päckchen. Einige kamen auf die Idee, ihm Gedichte vorzutragen und er nahm es geduldig hin. So hatte er Zeit, über seine Frau nachzudenken.
Julie konnte es nicht lassen, immer und immer wieder irgendwelche Überraschungsfeiern, Partys, Feste und zu allem Überfluss auch noch Tuppa-Treffen zu veranstalten. Es verging kaum ein Tag, an dem er von der Arbeit nach Hause kam und sofort in eine „lustige“ Gesellschaft gedrängt wurde. Einige Zeit spielte er noch mit, aber zunehmend stand er auf den Veranstaltungen nur noch apathisch rum und begann, seine Frau zu hassen. Nicht nur, das sie das Haus immer schmückte und den lieben langen Tag an Plänen schmiedete, alles noch lustiger und pompöser zu machen. Nein, sie veränderte sich auch selbst. Ihre liebliche Stimme, als er sie kennen gelernt hatte (auf einer Party), wurde zu einer hysterisch lachenden Kreissäge. Ihre dezenten Klamotten wichen grellen, bunten Kostümen und das Make-up musste wohl mit dem Tanklaster angeliefert werden, dachte er schmunzelnd, als ihm ein Kind am Bart zupfte. Sofort zog er den Kopf weg und um ein Haar hätte er den Bart verloren. Nicht auszudenken, was dann passiert wäre. Er hätte wohl seine Pläne dann etwas ändern müssen, aber so kam er gerade noch mal davon. Mit einem mordlüsternen Blick (das Kind verzog sofort die Lippen nach unten) drückte er ein Päckchen in die kleinen Händchen und ermahnte sie, wie auch alle anderen, diese Geschenke ja nicht vor dem morgigen Tag zu öffnen.
Es vergingen zwei Stunden, bis der Sack geleert war und als er das letzte Paket, ein großes, dem letzten Kind überreichte, lächelte er zufrieden, stand auf und verabschiedete sich unter einem enttäuschenden Aufschrei der noch wartenden Gören. Er sah in ihre Gesichter und ihm kam wieder Julie in den Sinn. Eines Tages kam sie auf die Idee, Partys nicht nur für Freunde und Verwandte, sondern auch für deren Gören zu geben. Das muss man sich mal vorstellen. Nicht nur die nervigen Feste mit den Erwachsenen, nein, wenn Mr. Wilson jetzt nach Hause kam, dann empfing ihn ein schreiendes Komitee aus Rotzlöffeln und Halbpubertären. Das war die Hölle. Und es musste ein Ende haben. Aber sie hörte nicht auf ihn. Das würde sie sich nicht nehmen lassen, anderen eine Freude zu bereiten, sagte
sie zu ihm, als er sie vor drei Tagen in der Küche zur Rede stellte.
„Ich würde mich am liebsten selbst verschenken“ lachte sie auf und drehte sich wie eine Irre tanzend im Kreis. Da haute es Mr. Wilson den imaginären Sicherheitsschalter aus dem Kopf. „Ok, Julie“ flüsterte er und sah sich plötzlich mit dem Hackbeil in der Hand vor ihr stehen „dann nichts wie los.“ Endlich einmal hörte sie zu Lachen auf.
Santa Grotto bahnte sich einen Weg durch die Kinder. Er suchte auf dem schnellsten Weg die Umkleideräumlichkeiten auf und verschwand darin.
Kurze Zeit später kam ein Angestellter in den Raum und fand den bewusstlos geschlagenen Mr. Liebmann vor. Der eigentliche Santa Grotto erzählte später der Polizei, er sei von einem als Nikolaus verkleideten Mann niedergeschlagen worden. Neben Mr. Liebmann fanden sich ein großer, leerer grün-brauner Sack und eine Verkleidung samt Bart und schwarzen Stiefeln.
Am nächsten Tag war Weihnachten und Mr. Wilson saß zuhause in seinem Sessel, genoss eine schöne Tasse Tee mit Biskuits und schaltete den Fernseher an. Heute gab es in den Nachrichten nur eine Meldung: Es wurden alle Personen aufgerufen, die gestern mit ihren Kindern bei Harrods waren und ein Geschenk vom Weihnachtsmann bekamen, sich in der nächsten Polizeistelle zu melden und das Geschenk mitzubringen. Unter keinen Umständen sollte man das Päckchen öffnen.
Mr. Wilson grinste. Es gab keine vernünftige Erklärung des Reporters, warum man das Päckchen nicht öffnen sollte und er vertraute auf die Neugier der Kinder. Ach, das wird ein schönes, ruhiges Weihnachtsfest.


Einstell-Datum: 2005-02-21

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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