"Die Welt hat uns vergessen. Wir sind kurz davor im Dunkel zu versinken.", so ein Bauer. Sein stimmungsvolles Horrorabenteuer hat Regisseur und Drehbuchautor Arnaud Malherbe in der Region Morvan (Burgund, südlich von Paris) angesiedelt. Die Wälder und Sumpflandschaften der Gegend eignen sich perfekt für das Horrorgenre und die Art psychologischen Thrills für die Fans sogar über Leichen gingen.
Erwachsene aus der Perspektive eines Jungen
Im vorliegenden Fall sind es vorerst vor allem junge Kälber, die wahrscheinlich von einer Art Wolfsbestie oder Hybrid angefallen und zerfetzt werden. Die Bauern der Region sind erzürnt und nicht besonders redselig, als sie von Chloé (Ana Girardot) auf ein Feuer angesprochen werden, auf dem augenscheinlich eine (Kalbs-)Leiche verbrannt wird. Chloé ist mit ihrem achtjährigen Sohn Jules
auf der Flucht vor einer schmerzhaften Vergangenheit nach Morvan umgezogen, um hier ein neues Leben ("eine zweite Chance") als Lehrerin zu beginnen. Aber vor allem durch ihren Sohn Jules wird sie immer wieder an diese Vergangenheit erinnert, denn ihm fällt es besonders schwer, die schrecklichen Ereignisse zu verarbeiten. Als er in der Nacht ein Monster vor seinem Schlafzimmerfenster sieht, ist das der Beginn einer Serie von Erscheinungen, die vorerst nur schwer einzuordnen sind. Aber als sich seine Mutter Chloé mit Mathieu, dem geheimnisvollen Dorfarzt, einlässt, wird die Situation bald klarer. Zudem leidet Jules unter einem Hörschaden, wahrscheinlich weil sein Ex-Vater ihn verprügelte, was aber nicht explizit angesprochen wird. Nach Bedarf schaltet er sein Hörgerät entweder aus oder ein, meistens wenn die Erwachsenen reden auf aus, denn er will das alles gar nicht hören. Anders verhält es sich da mit einem Nachbarsmädchen, das ihm immer den Mittelfinger zeigt. Mit ihr würde er gerne sprechen. Und ihr auch zuhören. Die eindringlichsten Bilder eröffnen sich dem Zuschauer, als die beiden an einem See im Wald sitzen und sich gegenseitig ins Ohr flüstern, was geschehen könnte.
Melancholie im Morvan-Wald
Die durchaus als melancholisch zu bezeichnende Gruselgeschichte mit psychologischem Unterton erzeugt vor allem durch seine eindringlichen, großartigen Bilder ein authentisches Horrordrama, das nicht nur Stiefvätern gefallen wird. Aber hat Jules sich seine Inspiration tatsächlich nur aus seinen Comics geholt, die in einer ähnlichen Aulandschaft spielen, wie sein neues Zuhause? Und ist der neue Freund seiner Mutter, Mathieu, wirklich nur der Dorfarzt? Ein besonders aussagekräftiger Moment ist eine Szene in der Chloé mit Kopfhörern vor ihrem Fenster steht und im oberen Stock über ihr ihr tauber Sohn sich sein Hörgerät anknipst, weil der Nebel des Grauens aus dem Wald auf sie zukommt. Im selben Augenblick reißt sie sich die Kopfhörer vom Kopf und schließt gerade noch rechtzeitig das Fenster. Ein Beweis, dass die eigentlichen, bedrohlichen Geräusche stets im Inneren, in einem selbst, lauern. Aber kann man davor auch einfach ein Fenster schließen? Der psychologische Hintergrund, nämlich die Angst des kleinen Jungen vor seinem neuen (Stief-)Vater wird angemessen angedeutet aber nicht übertrieben. So entsteht ein Horror höherer Finesse, der sich sowohl für Jugendliche als auch Erwachsene eignet.
"Ogre - Der Fluch" ist ein stimmungsvoller, psychologischer Horrorstreifen, der sich besonders für Bewohner:innen von Aulandschaften eignet. Vielleicht lässt sich dort auch das Dirigieren von Vögeln erlernen, so wie es der kleine Jules am Ende des Films so meisterhaft beherrscht. Aus ihnen, den Vögeln, erwächst nämlich die Energie, den Kampf gegen das Monster (in sich) aufzunehmen. Aber wo ist eigentlich Mathieu?
Arnaud Malherbe
Ogre - Der Fluch
Mit Albertine Rivière, Ana Girardot, Giovanni Pucci, Samuel Jouy
2023/2020, Horror, 103 Minuten, Blu-ray
Sprachen: Französisch, Deutsch
EAN 4020628635817
PLAION PICTURES
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2023-08-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.