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Literaturforum: Jan Roß - Was bleibt von uns


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 Thema: Jan Roß - Was bleibt von uns
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 23.07.2014 um 21:50 Uhr

Der ZEIT-Redakteur Roß hat „Was bleibt von uns – Das Ende der westlichen Weltherrschaft“ bereits 2008 als Buch bei Rowohlt herausgebracht. Da es ihm um die großen Entwicklungslinien ging, ist es nach wie vor ein aktuelles Buch und wird es noch länger bleiben. Liest man es jetzt zum zweiten Mal, kann man es einer Prüfung unterziehen: Welche Aussagen haben sich in den sechs Jahren seitdem bestätigt, welche sind fragwürdig geworden? Zwei Beispiele: Die zunehmende Distanz zu Russland hat er kommen sehen, dagegen die immer bedeutsamere Rolle des Hinduismus für die indische Politik nicht einmal geahnt.

Das erste von vier Kapiteln bietet den in diesem Genre heute oft gewählten Einstieg in ein Thema, indem Schlaglichter auf die aktuelle Situation geworfen werden, aufgelockert durch Verweise auf länger Zurückliegendes. So wird das Terrain abgesteckt, der Leser hoffentlich neugierig gemacht. Was aber, wenn er es schon ist? Dann könnte er diese gut vierzig Seiten überspringen, ohne viel einzubüßen.

Im folgenden Kapitel wird breit und mit profundem Wissen die jeweilige welthistorische Situation jener Gruppe von Ländern seit der Antike dargestellt, die wir heute kurz als den Westen bezeichnen. Dieser recht spannend zu lesende Abriss von Weltgeschichte überspannt die Jahrtausende von den Thermopylen bis zu Salman Rushdie. Er verweilt länger bei den wichtigsten Nachbarn, der orthodoxen wie der islamischen Welt und dem alten China sowie dem Verhältnis des Westens zu diesen Konkurrenten. Es war ein Prozess eines erst langsamen, teils von Zufällen bestimmten, dann immer gesetzmäßiger und schneller verlaufenden Aufstiegs, der im 19. Jahrhundert zur absoluten Dominanz führte, die auch noch im folgenden anhielt. Allerdings zeichnete sich schon früh, zuerst im petrinischen Russland, später in Japan, ihr allmähliches Ende mit der Übernahme westliche Technologie durch große nichtwestliche Nationen ab.

Roß stellt, wenn auch meist nur kurz, die wichtigsten inneren wie äußeren Voraussetzungen dieses Aufstiegs dar. Er spricht von der „nimmermüden Innovations- und Anwendungsmaschine“, weist auf „Machtteilung und Machtbegrenzung“ als „die Grundformel Europas“ im Politischen hin. Und er streift bereits die hässliche Rückseite: „Eine harte und kalte Seite, der Eiseshauch der Rationalität, die tödliche Effizienz, gehört zur Erfolgsgeschichte des Westens ebenfalls hinzu, und auch dies schon seit der Antike.“ Toynbee wird zitiert: „Wie verschieden die nichtwestlichen Völker der Welt auch voneinander sein mögen in Rasse, Sprache, Kultur und Religion – wenn irgendein westlicher Fragesteller sich nach ihrer Meinung über den Westen erkundigt, wird er von ihnen allen dieselbe Antwort hören: von Russen, Muslimen, Hindus, Chinesen, Japanern und allen übrigen. Der Westen, werden sie ihm sagen, ist der Erz-Aggressor der neueren Zeit gewesen, und jeder wird seine eigene Geschichte westlicher Aggression als Anklage vorzubringen haben. Die Russen werden daran erinnern, dass westliche Armeen 1941, 1915, 1812, 1709 und 1610 in ihr Land einmarschiert sind …“

Das dritte Kapitel ist das zentrale, gewichtigste. Es stellt die Jahre nach 1989 dar, den Triumph des Westens, den rasanten Aufstieg neuer Mitspieler, den einsetzenden westlichen Machtverfall. Die meisten Leser von heute dürften diese Zeitspanne miterlebt haben. Welchen Nutzen können sie aus der Darstellung ziehen – sie ist eben mehr, zeigt die Theorien hinter der Zeitgeschichte auf, setzt sich mit Fukuyama und Huntington auseinander und analysiert die Bruchstellen zwischen Theorie und Praxis. Den Leser wird vielleicht überraschen, wie Roß die innere Verwandtschaft zwischen Neocons und bewaffnetem Humanismus linksliberaler Provenienz darstellt. Im Fall von Huntington, der so oft mit Absicht missverstanden wurde, stellt er zutreffend richtig, dass jener Autor keineswegs den weltweiten Kampf der Kulturen befördern wollte, sondern das war: „der Programmatiker einer respektvollen, gleichberechtigten Koexistenz der unabänderlich verschiedenen Kulturkreise, ein weltpolitischer und ideologischer Pluralist“.

Nach so viel kluger Analyse enttäuscht das abschließende Kapitel, das Mut machen will für die Zukunft. Roß, der die inneren Widersprüche der herrschenden Politik wie Lehre des letzten Vierteljahrhunderts so präzise herausgearbeitet hat, fällt selbst zurück in deren Irrtümer. Er teilt ihre Illusionen und nimmt gelegentlich altbekannte kulturchauvinistische Positionen ein. Auch tröstet er sich mit Banalitäten wie dieser: „Am Ende finden die Leute schon heraus, was für sie gut ist.“ Oder er gründet seine Zuversicht auf ein Amerikabild, das nach den jüngsten Kriegen schlechthin unverständlich ist: „Darum bleibt Amerika so wichtig – nicht wegen seiner Macht, sondern wegen seines am Ende unheilbaren, unzerstörbaren Optimismus.“ Den hatten Bush und Cheney auch. Roß listet uns zur Beruhigung akribisch die Sollbruchstellen der konkurrierenden Gesellschaften auf, als ob sie uns nicht vielmehr besorgen müssten. Sein Buch weiß noch nichts von Finanzkrisen und gescheitertem arabischem Frühling – es wäre sonst wohl weniger frohgemut ausgeklungen.

Sein Ideal von der Zukunft formuliert er so: „Die globale Bestimmung des Westens ist nicht die Herrschaft, sondern die humanisierende Durchdringung und Transformation – aufgelöst wie ein Stück Zucker im Wasser.“ Ein schiefes und in sich widersprüchliches Bild, mal aktiv durchdringen und transformieren - wie gehabt, die zu Transformierenden werden sich bedanken – mal passiv wie ein Zuckerstück sein, dem von dritter Hand etwas geschieht und dessen eigene Essenz im Verlauf verwässert wird? Und dann versucht er doch noch, Huntington unter die entfernteren Nachkommen von Carl Schmitt, dem großen Anreger der Nazi-Expansion, einzuordnen. Da regt sich Unwillen in einem und man beschließt, Huntingtons großes Buch bald wieder einmal aus dem Regal zu nehmen.

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