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Literaturforum: Die grässliche Bescherung in der Via Merulana


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 Thema: Die grässliche Bescherung in der Via Merulana
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 24.05.2016 um 11:47 Uhr

Carlo Emilio Gadda wagt in diesem Roman stilistisch den großen Spagat zwischen seinem üblichen verschachtelt-humoristischen „Makkaroni“-Erzählstil und lapidaren Äußerungen von Romanfiguren voll äußerster Tristesse und Verzweiflung. Zunächst ein Beispiel für Ersteres. In Kapitel 7 leitet der Autor die anstehende nächtliche Vernehmung der Prostituierten Ines dadurch ein, dass er einen Polizisten zum zweiten Mal eine Brotzeit bestellen lässt:

„Pompeo seinerseits sah keinerlei Gegenindikation, welche dem Introitus einer Wiederholung des Sieben-Uhr-Brotes in Stiefelgröße entgegenstünde: diesmal mit Einlage von Roßbiff und gekochter Mortadella in Wechselschichten, von den höchst erfahrenen, molligen Fingern des Nudelkochs weich aufs Brotkanapee gebettet: welches er schließlich – durch einen Blick die Zulassung erteilend – mit dem vorausgeschnittenen und zur Seite gelegten Brotdach (der oberen Hälfte) bedeckelte: indem er selber die Unterlippe vorschob, kaum einen Millimeter zwar: während der komprimierte und sozusagen gegen den Kragen (wenn er einen Kragen überhaupt trug) geplättete Halsspeck ihm die Frühjahrskrawatte zudeckte, den gepünktelten Schmetterlingsbinder in Erbsgrün.“

Für einen Kriminalroman, in dem es vordergründig um die Aufklärung von Raub und Raubmord geht, ist das ein seltsamer Einschub. Gadda zieht hier im auktorialen Erzählstil die Register eines bei aller Eleganz der Formulierung doch etwas platten Humors: verfressener Polizist, korpulenter Koch, die Parallelität von Stulle und Doppelkinn. Unmittelbar danach hat die arme Ines dann allerdings nichts zu lachen. Das lange, bohrende Verhör entreißt ihr den Namen des Mannes, der sie mies behandelt hat, den sie noch immer liebt und den die Polizisten als einen Hauptverdächtigen betrachten. Der Autor nähert sich, für ihn typisch, allmählich dem personalen Erzählstil und wir sehen die Dinge schließlich mit den Augen der Prostituierten an. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung heißt es dann:

„Nackt kam sie sich vor, unbewehrt, gegenüber der Macht der Inquisitoren über Nacktheit und Schmach, von welchen sie, wenngleich ohne Hohngelächter, doch gerichtet wurde: nackt, unbewehrt: wie sie es sind, die Töchter, die Söhne ohne Schutz, ohne Schirm, in der bestialischen Arena dieser Erde …“

Nur noch formal ist das derselbe Makkaroni-Stil. An die Stelle der Komik einer von außen und mit leichter Boshaftigkeit beobachteten Imbiss-Szene ist die tief von innen kommende Klage einer elenden jungen Frau getreten: Bestialische Arena dieser Erde …! Diese Stelle hat eine Entsprechung, die noch stärker berührt. Der Kriminalist Ingravallo versetzt sich in Kapitel 2, gewissermaßen stellvertretend für den Erzähler, in das Mordopfer Liliana Balducci, und zwar in ihren letzten Minuten und Sekunden. Das Erleben ihrer eigenen Vernichtung ist höchst prägnant beschrieben und umfasst als Fazit, als letzte Erkenntnis, bevor ihr die Kehle durchgeschnitten wird: „Die unerwartete Wildheit der Dinge, plötzlich enthüllte sie sich ihr … flüchtige Jahre!“

Demgegenüber noch ein Beispiel für den auch mit ernsteren Verhältnissen seinen Schabernack treibenden Autor. Die Ermittlungen zum Kriminalfall verlagern sich in der zweiten Texthälfte von Rom in die ländliche Umgebung („Castelli Romani“). Hier wird der Maresciallo Santarella dadurch lächerlich gemacht, dass er bei seinem ersten Auftritt der höchst verdächtigen „Hexe“ Zamira etwas zum Färben bringt:

„Frauenunterleibchen waren’s, diese Pakete: denn der Maresciallo Santarella, der eines Tages ein Weib zum Altar geschleppt hatte (und noch nicht mal so geschwollen war sie), lebte mit neun Weibern: die Frau, deren alte Mutter und eine etwas blöde Schwester, dann die eigene Schwester, völlig unbefleckt, mit allen psychischen Schnörkelzeichen der Unbeflecktheit, welche Schwestern befallen, drei Töchter, noch nicht im Alter, um etwa nicht mehr unbefleckt zu sein, und zwei Untermieterinnen, Zwillinge, einstmals auf bestem Wege, aus der Unbeflecktheit herauszutreten, nunmehr jedoch (nach gleichzeitigem Entfleuchen des erhofften Ent-Unbefleckers, welcher, nachdem er sich nicht für eine der beiden hatte entscheiden können, sie beide hatte sitzenlassen, ehe er noch … Hand angelegt hatte), nunmehr also endgültig in die Unbefleckheit zurückgekehrt.“

Dieser überlange Satz, mit der Assoziation von Chemischer Reinigung – Zamira betreibt eine – und Befleckung im Sinne von Entjungferung spielend, liest sich wie eine Parodie auf Proust, der alles genau weiß und es genauestens mitteilen muss. In Teilen könnte man Gaddas Roman, der ja viel mehr Sozial- und Milieustudie als Kriminalgeschichte ist, allerdings auch als komische Version von Joyce’ „Ulysses“ auffassen. Am ehesten gerecht wird man Gaddas Genie, wenn man die „Via Merulana“ als eine in Stil und Weltbild barocke Angelegenheit betrachtet, beeinflusst vielleicht von neuesten Erkenntnissen der Physik (Ingravallo als Vorläufer der Chaostheorie?). Es geht jedenfalls um eine Welt zwischen Eros und Tod, zwischen liebenden Vereinigungen und endgültigem Abscheiden. (Nebenbemerkung: Viel weniger überzeugend ist der Roman als zeitgeschichtliche Abrechnung mit dem Mussolini-Regime. Zwar wird der Diktator in dem kurz nach Kriegsende geschriebenen Buch häufig als lächerliches Hassobjekt eingeflochten, doch erscheinen diese Stellen allzu stereotyp, um tief empfunden oder durchdacht zu sein – Gadda war zudem in jungen Jahren selbst Mitglied der Faschisten-Partei. Die Funktion der Tiraden gegen Mussolini für den Roman erschließt sich gewöhnlich nicht. Polizeiarbeit und Verfolgungsdruck dürften vor wie nach Mussolini sich nicht viel anders dargestellt haben als hier 1927, dem Jahr der Romanhandlung.)

Eine weitere mögliche Assoziation: Der Roman erinnert in seinem Auf und Ab, mit seinem Hin und Her an Tango-Musik, ein Musikstil, der in Europa in Mode kam, als Gadda jung war. (Als Elektroingenieur hat er damals selbst eine Zeitlang in Argentinien gearbeitet.) Man kann den Text lesen wie man eine zwischen Elegie und Groteske schwankende Musik, etwa von Astor Piazzolla, anhört. Gadda beherrscht meisterhaft sein literarisches Bandoneon, sein Pizzicato.

Es herrscht Ausgewogenheit zwischen Frauen und Männern, der Zahl nach wie bei ihrer kritischen Würdigung durch den Erzähler. Die Geschlechter sind in einen Reigen umeinander gebannt, Männer um Frauen, Frauen um Männer, Frauen um Frauen, der Erzähler seinerseits um all seine Figuren. Die Namen sprechen oft für sich. Liliana Balducci ist die Reine, Unschuldige, allerdings stark angekränkelt durch die Tatsache ihrer Kinderlosigkeit. Die junge Ines ist zwar dem Dienst der Venus geweiht, doch nur aus materieller Not und im Elend gefangen. Die Zamira als Wahrsagerin, Zuhälterin, Hexe und alte Vettel ist so bewusst überzeichnet, dass sie als Kunstfigur der Misogynie schon wieder durchgehen kann. Die Kusinen Mattonari, bei der Zamira als Nähmädel beschäftigt, so verschieden wie möglich, einander spinnefeind, ergeben einen weiteren tragikomischen Kontrast. Mit Lilianas früherem Dienstmädchen Assunta (= die in den Himmel Aufgenommene) bricht der Roman in Kapitel 10 überraschend ab. Ist er Fragment geblieben oder die Handlung an ihr Ziel gekommen: größtmögliche Verwirrung? Die möglichen, ja wahrscheinlichen Haupttäter sind herausgefunden, doch erfahren wir nichts mehr von deren Festnahme und endgültiger Aufklärung.

Der Kriminalist Ingravallo steht dem Erzähler offenkundig am nächsten. Er vertritt dessen Theorie von der „Vielzahl von konvergierenden Ursachen“ und in ihm spiegelt sich zum Teil Gaddas eigene Homosexualität verstohlen wider. Ingravallo schätzt die schöne, unfruchtbare Liliana als reine, anbetungswürdige Frau. Das hat etwas von asexuellem Minnedienst. Andererseits begehrt er Assunta körperlich. Er wie der Erzähler empfinden instinktiv intensive Abneigung gegen attraktive heterosexuelle Männer, die Frauenhelden sind, wie Lilianas Vetter Valdarena oder die vermutlichen Haupttäter Iginio und Diomede. Seine Antipathie verleitet Ingravallo wiederholt dazu, in falsche Richtung zu ermitteln. Ganz anders der Brigadier Pestalozzi, der auch privat in jenem subproletarisch-ländlichen Milieu verkehrt, in dem die Täter zu suchen – und die geraubten Juwelen ebenfalls: Pestalozzi spürt sie auf. Zwischen flatternden Hennen, einem tobsüchtigen Köter und aus einem Nachtgeschirr kollernden Nüssen entdeckt er sie. Hier ist Gadda auf der Höhe seines bitter-humoristischen Erzählens. Und während Pestalozzi zielstrebig ermittelt, wirft der Erzähler zwischendurch interessierte Seitenblicke auf dessen jüngeren Kollegen, den „braven Knaben“. Sagen wir es so: Bei der Darstellung der Frauen sehen wir eine Empathie des Herzens am Werk, bei jener der Männer eher eine der Sinne.

Der abrupte Schluss bleibt zweideutig. Worüber empfindet Ingravallo mehr Scham: über sein Abirren beim Aufklären oder dessen subjektiven Gründe? Der letzte Satz des Buches:

„Diese schwarze, senkrechte Falte zwischen den beiden Brauen des Zorns, im schneeweißen Antlitz des Mädchens, sie lähmte ihn, verführte ihn zum Nachdenken: zur Reue fast.“

(Alle Zitate nach der Übertragung ins Deutsche von Toni Kienlechner für den Piper Verlag.)

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