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Brief an einen lieben Toten
Autor: ArnoAbendschoen · Rubrik:
Erzählungen

Berlin, im Herbst 2020

Lieber Vorangegangener,

verzeih, das klingt hölzern, ich weiß. Es ist nicht die erste Version, ich tue mich damit schwer, dich den neuen Umständen entsprechend anzureden. Ich wollte schon "Mein lieber Antipode" schreiben und habe es verworfen – zu kühl, zu gelehrt. Außerdem missfällt mir dessen Bedeutung im übertragenen Sinn. Nicht einen Gegensatz will ich betonen, ich suche wieder die Annäherung an dich. Die neuen Umstände? Noch so eine Verlegenheitsfloskel. Es ist nun einmal wahr, dass sie dich in der Erde Neuseelands begraben haben, nicht in Europa, das du mehr geliebt hast, wenn es auch eine Zuneigung aus der Distanz bleiben musste. Mir fällt noch etwas ein: "Lieber Gegenfüßer" … Das hat etwas Zärtliches, findest du nicht?

Ich stelle mir jetzt deine Füße nicht im Grab, sondern in meinem Bett vor, damals neben mir. Du schläfst unruhig, bewegst Beine und Füße hin und her und davon werde ich wach. Deine Sorgen kenne ich, deinen unerfüllbaren Wunsch. Du willst nach Europa, nach Deutschland, nach Berlin. Du wirst keine Arbeitserlaubnis bekommen, also musst du zurück und auf der Südhalbkugel bleiben. Und deshalb ruckelst du jetzt im Traum mit den Extremitäten, zuckst auch mit Armen und Händen. Ich kann dir nicht wirklich helfen, dich nur ein wenig beruhigen. Ich nehme dich in meine Arme und ich lege ein Bein quer über deine Unterschenkel. Jetzt bist du halbwach geworden, atmest einmal tief durch und rückst näher an mich heran. So war es doch - war es so? Wer sich da noch sicher sein könnte.

Zufällig bin ich auf die Nachricht von deinem Tod gestoßen – was man so Zufall nennt und doch keiner ist. Ich bin dabei, alte Briefe digital zu archivieren, solche, die ich noch immer aufbewahre. Nr. 420 ist der, den du mir einmal geschrieben hast. Ich war mir nicht sicher, ob ich deinen Familiennamen noch exakt wüsste; er fehlt im Brief. Um es herauszufinden, gab ich Vor- und Zunamen bei Google ein. (So ein Pedant bin ich.) Korrekt sind die Namen und ich weiß jetzt, dass du schon einige Zeit nicht mehr am Leben bist. Ein paar Tage war ich traurig deswegen. War das nun überspannt? Ich war dir vor Jahrzehnten während eines halben Monats sehr nahe gekommen und hatte schon lange keine Nachricht mehr von dir. Und dennoch: So fern du warst, so nah warst du mir auch. Kein Jahr, in dem du mir nicht wiederholt vor die Augen tratest. Hättest du dich nicht vollkommen von mir entfernt, es wäre weniger oft geschehen, vermute ich.

Du seiest unerwartet und friedlich zu Hause verschieden, las ich. Das ist ganz dein Stil gewesen: ruhig abwarten und geschehen lassen. Einmal, das hast du mir erzählt, standest du in Berlin vor einer abfahrbereiten U-Bahn, wartend, dass die Türen automatisch geöffnet würden, wie in London. Nicht so in Berlin, die Bahn fuhr ohne dich ab.

Ich hätte dich hier auch mit deinem Vornamen anreden können, aber das ist mir nicht persönlich genug. Du trägst einen häufig vorkommenden Namen. Ihn zu gebrauchen, würde dich unter so viele andere einreihen, doch für mich warst du einzigartig. Ich kenne die Art deiner Bestattung nicht, sie werden deinen Leib hoffentlich nicht verbrannt haben. In deinen Knochen, im Rückenmark, gerade auch da ist deine individuelle, unverwechselbare Substanz. Ich würde nicht zögern, deinen Totenschädel zu berühren, so als ob du noch lebendig wärst wie damals. Du kamst mit mir nach Hause, ein wenig besorgt beim ersten Mal. Ich schloss die Tür hinter uns und nahm deinen Kopf in meine Hände, umfasste die Hirnschale. Ich war neugierig auf den Inhalt unter der Schädeldecke, griff stärker zu. Die Form offenbarte mir nichts. Da begann ich das kurze Haar zu streicheln - war es dunkelblond oder fahlbraun gewesen? Meine Erinnerung lässt mich im Stich. Wir küssten uns lange. Dein Totenkopf würde mir auch jetzt keinen Aufschluss geben. Ich würde ihn behutsam niederlegen, wie eine Reliquie.

Es ist richtig, du warst nicht allzu hübsch. Warst weder recht groß noch wirklich klein. Durchschnitt, ohne Mittelmaß, schlank, ohne hager zu sein. Eher herb sahst du aus, ein bisschen karg, später Nachfahre von Fischern und Schafzüchtern, im Ganzen doch reizvoll, stellte ich allmählich fest. Als du in die Bar kamst, war Wyatt neben dir und zog anfangs meine Blicke auf sich. Er war, was du nicht warst: groß, breit, gutaussehend. An ihn wollte ich näher herankommen. Aber er wich geschickt aus, indem er sich hinter dich stellte, als ich zu euch getreten war, und sagte mir über deine Schulter hinweg, du seiest ihr Besuch von daheim, aus Neuseeland. Er wohnt bei uns draußen, ergänzte er und bezog so einen mir unbekannten Dritten mit ein, schob ihn zusätzlich zwischen sich selbst und meine interessierte Person. Dann ging er weg, angeblich um Drinks für uns zu holen. Sprich Englisch mit ihm, wenn möglich, sagte er noch und blieb lange fort. Wir sahen ihn mit zwei anderen Gästen reden.

Unser Gespräch in der Bar war von Anfang an stockend. Es mag auch an der lauten Musik gelegen haben, daran dass wir gegen sie anreden mussten. Du sagtest, du hättest den ganzen Sommer in Europa verbracht und müsstest bald zurück, leider. Dabei wirktest du so bedrückt, dass es mich rührte, und das war der Anfang der Sympathie. Ich legte eine Hand auf deine Schulter, begütigend sollte es wirken, du aber wolltest es als mein Bedürfnis nach größerer Nähe verstehen, lehntest dich an mich, bliebest dabei. So standen wir länger dicht beisammen und sahen schweigend auf das Treiben rundum: die Grüppchen Redender, die einzeln Herumgehenden, das Werben umeinander … Wyatt kam zurück mit zwei Flaschen Bier, für sich eine Limonade. Er trank sie nur halb aus, erklärte dir etwas mit viel Akzent, so dass ich nichts mitbekam. Dann war er weg und ich hatte dich für die Nacht.

Es wurden drei Nächte, erst eine und am Wochenende darauf noch zwei. In der Erinnerung unterscheide ich sie kaum. Wir waren jeweils auch den größten Teil des auf eine Nacht folgenden Tages zusammen, blieben in meiner Wohnung, bis Wyatt dich abholte. Dabei schien er darauf zu achten, dich nicht bei mir zu treffen, sondern irgendwo in der Nähe. Mit dir zu reden, war jetzt einfach. Ich hörte mich in dein pazifisches Englisch ein und du überhörtest meine vielen Fehler beim Sprechen oder tatest so. Wir sprachen über dein Land und meines. Europa war für dich herrlich, Deutschland wunderbar und Berlin die allerfreieste Stadt. Ich habe hoffentlich nicht darüber gelächelt wie jetzt. Wenn du schon nicht übersiedeln konntest, solltest du wenigstens ein paar leicht zu konservierende Illusionen mit nach Hause nehmen, als Notvorrat für die lange weitere Lebensreise.

Anschmiegsam warst du am Tag auf eine selbstverständliche, fast sportliche Weise. Nachts begriff ich, dass du das Unterlegensein liebtest, auch den Schmerz. Du zeigtest mir, wie ich dir wehtun konnte. War ich gelehrig? Du hängtest dich an mich, das war zu bemerken. Je sympathischer du mir wurdest, umso weniger gern schlug ich dich und tat es doch, um dich nicht zu enttäuschen. Mein Dilemma vergrößerte sich mit jeder gemeinsamen Nacht. Würdest du auch noch verlangen, dass ich dich würgte? Ich sagte mir, es sei gut, dass du bald zurückfliegen musstest, und ich vermisste dich schon im Voraus.

Die vierte Nacht verlief anders. Wir waren in der Bar verabredet, in der wir uns kennengelernt hatten. Du kamst erst spät an diesem Samstagabend mit Wyatt dorthin. Ich erfuhr zu meiner Erleichterung wie zu meinem Schmerz – ja, Schmerz -, du könntest nicht mehr mitkommen. Am übernächsten Tag ging morgens dein Rückflug und Wyatt hatte das Abschiedsprogramm so dicht gepackt, dass keine Stunde mehr frei blieb. Morgen Mittag, sagtest du, da haben sie für mich Freunde von sich zum Essen eingeladen … Nach einiger Zeit trenntest du dich von uns, stiegst die Treppe hinab und bliebst sehr lange dort unten. Es ging gegen Morgen, das Lokal leerte sich. Wyatt, der bei mir geblieben war, sagte nach und nach: Ja, Lionel ist jetzt im Darkroom … Er ist ein bisschen depressiv wegen seiner Abreise … Ich würde zwar gern bald nach Hause fahren, aber ich bringe es nicht über mich, ihn heraufzuholen … Es ist seine letzte Gelegenheit, wahrscheinlich für immer … und vielleicht ist es gut so. Selbst mir ist es schwer gefallen, mich bei euch einzugewöhnen. Der Mentalitätsunterschied ist sehr groß.

Um halb fünf warst du wieder bei uns. Wir redeten noch einmal über die Zukunft. Du sagtest: Ich kann mich nicht mal in England einbürgern lassen, das geht jetzt auch nicht mehr … Und du würdest Europa nicht mehr besuchen, es sei zu teuer. Oder, wenn überhaupt, frühestens in fünf Jahren. Wir blieben noch eine Stunde, bis der Barmann uns als Letzte hinauskomplimentierte. Dann auf der Straße gefühlvoller, endgültiger Abschied, aufwühlend, empörend, niederschlagend. Es kam noch ein Brief von dir, anzuschauen wie die Inschrift auf einer alten römischen Stele, sagen wir, an der Via Appia. Ein Fragment daraus: I HOPE YOU ARE WELL MANY DAYS I THINK OF THE TIMES WE SPENT TOGETHER EVEN THO IT WASN’T VERY LONG FOR ME THEY WERE NICE TIMES I WISH WE COULD HAVE SPENT A LOT MORE TIME TOGETHER AND GOT TO KNOW ONE ANOTHER MUCH BETTER I REALLY MISS THOSE NIGHTS AND SUNDAY MORNING BREAKFASTS DON’T HAVE ANY MORE NEWS AS THIS PART OF THE WORLD IS VERY QUIET – Wie oft habe ich das gelesen und manchmal dazu Musik von Philip Glass gehört: Einstein on the Beach.

Unsere Verbindung brach ab, du warst kein großer Briefschreiber. Was Wyatt betrifft, so weiß ich inzwischen, ihr seid immer in Kontakt geblieben. Darin finde ich einen gewissen Trost. Er ist ein Mann von Anstand, Format und Würde. In ihm ist der Geist des Ostens – lernen wir von ihm - und an ihm, Wyatt, ist auch die Manierlichkeit der großen Welt. Einer wie er konnte im Beruf Prinzessinnen und Diven umsorgen. Wie souverän er ist, ihn kann, ihn muss man bewundern - dich hätte ich immer nur lieben wollen. Wusstest du, dass ich Wyatt schon vor dir kennengelernt hatte? Es war im selben Sommer, ein paar Wochen früher, eine wortarme Begegnung im Wald … Er, der große, kräftige, attraktive Mann kniete vor mir und – du bist schon im Bild. Dabei war er einfach perfekt und: vollkommen unpersönlich. Das Persönliche ist wohl unser Schicksal gewesen, deines wie meines, und ich will jetzt nicht so weit gehen zu sagen: auch unser Unglück.

Wie lasse ich dir diesen Brief zukommen? Und muss ich ihn erst ins Englische übersetzen? Das weiß ich noch nicht. Ich will es so sehen: Jetzt ist dieser Brief an dich in der Welt, und das ist dieselbe Welt, an der, in veränderter Form zwar, deine unzerstörbare Substanz noch immer teilhat. So gesehen kann ich mich an vielen Orten und zu vielen Zeiten an dich wenden, dich erreichen. Fast möchte ich sagen: Was war, das ist und wird sein. Oder vielleicht ist es so, es mag sein. Jedenfalls grüße ich dich, anders als zu Beginn meines Briefes, an seinem Ende so:

Der mit dir Gleichzeitige


Einstell-Datum: 2020-10-03

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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