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Es ist wie Sterben
Autor: Jonathan Dilas · Rubrik:
Erzählungen

Es ist wie Sterben


Es war ein hervorragender Film, den wir gesehen hatten und strömten nun langsam in dem Pulk Leute vom Kino fort, während wir unsere Empfindungen und Eindrücke austauschten. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr verriet mir, dass der Film mehr als neunzig Minuten gedauert hatte, aber der laue Sommerabend hatte sich noch nicht gänzlich von der Sonne verabschiedet und so blinzelten weiterhin einige Sonnenstrahlen durch die engen Gassen hindurch und erfassten so manches Mal unsere Gesichter, tünchten sie in ein feines kaminrot und erhielten die Erinnerung an die Wärme des Tages.

Für einen Augenblick trafen sich unsere Blicke und ein Lächeln huschte über meine Lippen, doch sie erwiderte es nicht. Vielmehr meinte ich in ihren Augen zu erkennen, dass sich etwas in ihr verändert hatte. Es war, als hatte sie von einem Augenblick zum anderen ihren ganzen Charakter geändert und eine Information erhalten, die sie vor wenigen Sekunden noch nicht besaß. Mein Lächeln verwandelte sich in einen fragenden Blick. Für einen Moment glaubte ich, dass meine Mimik nicht ausreichte, um dies als Frage gelten zu lassen, aber im nächsten Moment wechselte ihr befremdlicher Ausdruck zu einem flüchtigen, unsicheren Lächeln.

„Ich würde jetzt gern an einem ruhigeren Ort sein“, antwortete sie auf meine ungestellte Frage.

Indes schaute ich mich um und entdeckte einen schönen Weg in der Nähe, der an einem Wald entlang führte.

„Lass uns dort entlang gehen“, schlug ich vor und deutete mit einer Kopfbewegung zu dem Weg.

Sie nickte schnell und wir schlenderten schon in die Richtung. Schritt für Schritt baute sich vor uns eine Front aus Bäumen auf, die von einem angenehmen Wind zärtlich gestreichelt wurden und sanft hin- und herwogten. Für einen winzigen Augenblick glaubte ich zu erkennen, dass die Bäume den Wind mit ihren Bewegungen erzeugten und sich somit als uralte Wesen unseres Planeten outeten, denen lange Zeit vor den Menschen das Leben eingehaucht wurde, doch den Bruchteil einer Sekunde später war wieder alles so, wie ich es gewohnt war. Gleichzeitig beschlich mich das Gefühl, dass wir nicht allein waren. Es war, als wurden wir verfolgt. Ein unauffälliger Blick über meine Schulter ließ mich jedoch niemanden erkennen, der uns gefolgt sein könnte. Es war kein Mensch mehr in unserer Nähe.

„Fühlst du dich nun besser?“, fragte ich.

„Ja, so ist es gut. Weißt du, für einen Moment glaubte ich, dass sich alles um uns herum auflösen könnte. Es war nur ein Moment. Ich bin mir nicht sicher, ob du das kennst, aber es war kurz so, als würde ich nur noch Sekunden zu leben haben. Kennst du das?“

Ich nickte.

„Dann schießt mir das Blut in den Kopf und jede Zelle meines Körpers scheint alarmiert zu sein. In solchen Momenten wird mir bewusst, dass der Tod zu unserer Natur gehört, auch wenn wir ihn möglichst tief verdrängen.“

„Der Tod vertreibt die gute Stimmung, in der man sich gerade befinden mag, könnte man sagen“, entgegnete ich leicht scherzend.

Plötzlich drehte sie sich wieder und wies auf einen weiteren Weg, der direkt in den Wald führte.

„Lass uns dort hingehen“, rief sie beinahe und ehe ich mich versah, hüpfte sie schon in den Wald hinein.

Ich wusste, dass es in einer guten Stunde dunkel werden würde, aber es beängstigte uns in diesem Augenblick nicht. All diese kleinen Geschehnisse schienen so ehrfürchtig perfekt zu sein, sodass wir keine Gedanken an die Zukunft verschwenden wollten.

Zügig ging ich ihr nach und wir ließen uns von dem Zwielicht der Dämmerung ummanteln. Für einen kurzen Augenblick schien alles um mich herum langsamer abzulaufen, als es ansonsten der Fall ist. Ich sah, wie ihr dunkles Kleid mit dem Licht des Waldes verschmolz, während ihr Haar vom Wind angehoben wurde und sich in sämtliche Richtungen verteilte. Diese auf einen Bruchteil herabgesetzte Szene ergab ein äußerst kurzes, unrealistisches Bild, wie sie dort in ihrem Kleid und dem wehenden Haar stand, nur damit es im nächsten Augenblick wieder in sich zusammenfiel, um der gewohnten Wahrnehmung zu weichen, die uns eine unumstößliche Sicherheit der Voraussagbarkeit gewährte.

Sie schaute sich um und entdeckte einen Hügel, den wir kurz darauf hinaufgingen. Dort oben angekommen gab es nur noch einen Hügel, welcher höher als unserer war, aber ihr genügte der Blick, der sich uns nun bot. Wir konnten eine weite Wiese entdecken, die teilweise von einigen Baumgruppen verdeckt wurde, aber dennoch die Sicht auf weiteren Hügeln und einem großen Tal gewährten, das frei von jeglicher Zivilisation, Straßenlärm und Lichtern war.

„Wie wunderschön!“, unterbrach sie mit ihren Worten die Stille und schloss genussvoll die Augen.

Jetzt gab es erneut eine Veränderung in meiner Wahrnehmung. Die Zeit schien sich wieder zu dehnen und während sie völlig verlangsamt ihren Kopf in den Nacken legte und ihr Haar nach hinten fiel, befanden sie sich für einen Augenblick in der Luft und erweckten den Eindruck, als hätten sie sich ohne ihre Hilfe in diese Position bewegt, als würde jede einzelne Strähne ihrer wundervollen Haare schlangengleich in sämtliche Richtungen auf der Suche nach Nahrung züngeln, die der Wind war.

Ihre Stimme unterbrach diesen flüchtigen Eindruck, der sich auf meine Augen gezaubert hatte:

„Du wirkst heute so still.“

Sie musste nicht mehr sagen, um mir zu zeigen, dass ihr meine Nachdenklichkeit aufgefallen war. Ich beschloss vorerst nicht zu antworten und schaute weiter hinunter ins Tal. Es war ein Moment des Mitgefühls, des völligen Verständnis, das sich zwischen uns aufgebaut hatte. Es war, als waren nur noch wenige Worte erforderlich, ausschließlich notwendig, um unserer unjustierten Empathie die Richtung zu weisen, um sich weiteren Worten entziehen zu können.

So standen wir dort mehrere Minuten stumm und dennoch zufrieden mit der Welt, die um uns herum so sanft und anmutig geschah…

Plötzlich riss mich etwas aus diesem Gefühl heraus. Es war ein seltsames Scharren, das sich ganz in meiner Nähe befand. Ich blickte nach links und erkannte sofort die Ursache für dieses Geräusch. Sie scharrte ständig mit den Füßen über dem Boden, so wie ein Stier, der sich zum Angriff vorbereitete oder ein Pferd, das unruhig in seiner Box auf das Öffnen der Klappe wartete.

Meine Stirn zog sich kraus, doch sie konnte dies nicht sehen, denn ihre Augen waren geschlossen. Ehe ich mich versah, wich meine Verwunderung einer seichten Panik, die ganz allein daher rührte, dass ich mit einem Mal auf ihren Oberarmen Haare entdecken konnte, die zuvor nicht existiert hatten! Irgendetwas geschah mit ihr und ich besaß in diesem Augenblick keine Erklärung für dieses Phänomen. Es wirkte so, als würde sich ihre Haut nun mit einem weißen, kurzen Fell überziehen wollen. Ehe ich die Situation gänzlich erfassen konnte, spürte ich deutlich, wie sich mein Atem beschleunigte. Es war, als bekäme ich nicht genügend Luft und hyperventilierte nahezu. Hinzu gesellte sich der unwiderstehliche Drang, mit meinen Füßen über den Boden scharren zu müssen. Rhythmisch scharrten wir nun gemeinsam und wirbelten Dreck und Staub auf, als würden wir jeden Moment loszurennen haben. Ein Schwindel erfasste mich und in unserer aufkommenden Todesangst griffen wir nach unseren Händen. In diesem Moment löste ich mich von meinem Körper und schwebte mehrere Meter über dem Boden. Langsam drehte ich mich und blickte nun aus einiger Entfernung auf unsere trabenden Körper zurück. Uns war offensichtlich entgangen, dass sich in unserer Nähe zwei weiße Pferde befanden, die ihren Blick auf uns fixiert hielten. Nur außerhalb unseres Körpers konnten wir sie deutlich erkennen, wie sie auf dem höheren Hügel standen und sich geschickt unseren physischen Sinnen entzogen hatten, doch nun enttarnten sie sich als zauberhafte Wesen, mit langen weißen Mähnen und funkelnden Augen.

Nun erblickte ich auch auf meinen Armen eine Veränderung. Schnell sprossen mehrere weiße Härchen aus den Poren und bedeckten nach und nach meine gewohnte, menschliche Haut. Der Schreck erfasste mich tief und mit einem lauten Schrei bestätigte ich die Existenz dieser Wahrnehmungen. Die Verwunderung wich dem Entsetzen und einem rasendem Herzen, denn dies war eine Situation, auf die mich niemand zuvor vorbereitet hatte. Fragen schossen mir durch den Kopf, ob eine Verwandlung dieser Art den Körper eines Menschen töten kann oder wie das Gehirn darauf wohl reagieren mochte. Weitere Gedanken über den Irrsinn und die wissenschaftliche Unmöglichkeit einer solchen Verwandlung waren in Windeseile der unbestreitbaren Wahrnehmung dieser äußerst bedrohlichen Transmutation gewichen.

Mittlerweile waren meine Arme und Hände völlig mit weißem Fell bedeckt. Ich riss die Hände hoch und fühlte mein Gesicht, auch dies hatte sich verändert. Meine Lippen waren um ein Vielfaches geschwollen und die Nase hatte sich sonderbar verbreitert. Der Prozess schien beschlossen und nicht mehr umkehrbar. Ein Blick auf meine Füße zeigte, dass die Schuhe der enormen Belastung nicht mehr standhalten konnten und an den Seiten bereits aufrissen. Breite Hufe kamen zum Vorschein. Als nächstes erwartete ich, mich unweigerlich nach vorn beugen zu müssen, aber dies blieb sonderbarerweise aus, ich stand weiterhin aufrecht und gab mich vor Angst gelähmt dem Geschehen hin. In mir breitete sich nun rasch die Atmosphäre des nahenden Todes aus, erfüllte meinen Geist und für einen Augenblick erinnerte ich mich an ihre Worte über die menschliche Sterblichkeit. Sie hatte Recht. Es ist wie Sterben. Ein Gefühl der völligen Selbstaufgabe, der Verlust aller Sicherheit und Vertrautheit, ein Herausgerissenwerden aus dem Schoße der Gesellschaft mit ihren verlockenden Perspektiven und Möglichkeiten, dem Konsum und
der schönen, beruhigenden Ablenkungen. Solcherlei Bilder gestalteten nun vor meinem inneren Auge den letzten Tanz, als ich im folgenden Moment mit Schrecken erkannte, dass die Verwandlung meines Unterkörpers nun in die Vollendung trat. Starke Sehnen, hornartige Füße und helles Fell, das eindeutig auf das Aussehen eines Pferdes hindeuteten, konnte ich nun als neues Aussehen meines Körpers betrachten. Mein Oberkörper befand sich vermutlich kurz vor seinem Abschluss, als plötzlich ein starkes Gefühl in mir aufkam, dass mich innerlich zu zerreißen schien. Es riss mich in zwei Hälften! Mein Ich zog sich aus meinem Unterkörper zurück und besetzte nun meinen Oberkörper. Als ich das Gefühl besaß, mein Ich hätte sich vollständig in meinen oberen Körper zurückgezogen, traten die Erscheinungen der Verwandlungen rapide zurück. Das weiße Fell auf meinen Armen verschwand und mein Gesicht schien wieder in seinen Urzustand zurückkehren zu wollen, während der Unterkörper der eines Pferdes verblieb! Diese Spaltung war unerträglich und zerrüttete mich zutiefst. Mein Gefühl für meinen ganzen Körper hatte sich nun aufgeteilt und die untere Hälfte entzog sich nun völlig meiner Kontrolle, wie eine Apparatur, der man meinem Oberkörper aufgesetzt hatte, einer Prothese gleich. Doch sollte ich mich geirrt haben, denn sobald ich wieder an das Traben dachte, bewegten sich sofort meine Hufe und scharrten wild Erde auf. Mein Unterkörper befand sich noch immer unter meiner Kontrolle, aber jedes Gefühl, so wie die Beine eines Querschnitt-gelähmten nicht mehr seine eigene zu sein scheinen, war für meinen Unterkörper verschwunden.

Die Verwandlung war nun abgeschlossen und diese unfassbare und unglaubliche Ereignis hatte mich ganz von meiner Begleiterin abgelenkt. Langsam drehte ich mich zu ihr und als ich sie erblickte, konnte ich sofort erkennen, in was wir uns verwandelt hatten: Wir waren zu Zentauren geworden! Wesen, die zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Pferd sind. Nur Legenden berichten von diesen Fabelwesen, die vermutlich einmal auf unserem Planeten existiert oder kurzzeitig in unsere Welt gefunden haben mochten, die wir nun waren.

Wir nahmen uns erneut an den Händen und drehten uns zu den beiden Pferden, die ich kurz am Rande wahrgenommen hatte. Sie schauten zu uns herüber und waren ebenfalls zu Zentauren geworden. Sie nickten uns zu und machten auf ihrer Hufe kehrt, nur um sich vielen anderen Zentauren anzuschließen, die zwischenzeitlich im Tal aufgetaucht waren und in einer unglaublichen, langen Kette in einen anderen Wald hineinschritten.
Meine Begleiterin schaute mich an und wir wussten, dass wir uns ihnen nun anzuschließen hatten. Aus uns unerfindlichen Gründen hatten wir das Dasein als Mensch aufgegeben und beschlossen, uns diesen hunderten Zentauren anzuschließen.

„Weißt du, was hier geschieht?“, fragte sie mich.

Mein Atem stockte, denn der Wunsch zu erfahren, was hier gerade geschehen war, hatte mein Bewusstsein für die Antwort weit geöffnet.

„Wir sind inmitten der großen Wanderung der Zentauren auf der Suche nach einer neuen Heimat! Komm, schließen wir uns ihnen an. Wir sind nun keine Menschen mehr…“


(© Jonathan Dilas, Februar 2005)


Einstell-Datum: 2005-03-15

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 333 (2 Stimmen)

 

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