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Persepolis
Autor: Dominic Memmel · Rubrik:
Kolumne

Versuch einer Filmkritik - Persepolis


"Guten Tag, Frau Dingens, alte Floskel," scherzte ich die Dame an, als sie mir im Supermarkt entgegen kam.
"Was soll denn das jetzt heißen, junger Mann? Wollen Sie mich beleidigen?"
"Entschuldigen Sie, Frau Dingens, mein Mundwerk ist mir durchgegangen."
"Das kann man wohl sagen!" Der Rabe des Schweigens flog durch den Supermarkt und warf seinen unheilvollen Schatten über uns. Einen Moment standen wir da, beide mit geröteten Gesicht, sie der Wahrheit wegen, ich, weil ich sie ausgesprochen hatte - Frau Dingens ist und bleibt eine alte Floskel. Doch Frau Dingens ist nicht irgend eine Floskel. Abgesehen davon, dass sie alt ist, zeichnet sie sich durch eine gutmütige Charakterstärke aus, wie man sie nicht bei jedem sieht, und so nahm sie den Faden an ganz anderer Stelle wieder auf: "Wissen Sie, ich bin mit meinem kleinen Einkaufszettel schon über eine halbe Stunde unterwegs."
"Unterwegs?"
"Ja. Zwischen den Regalen."
"Hä... wie?"
"Hier im Supermarkt."
"Aha."
"Ich bin einfach nicht bei der Sache." Sie ließ einen verlegenen Blick über die Würste neben uns im Kühlregal schweifen. "Wissen Sie, wo ich Mortadella finde?"
"Mortadella?" Ich überlegte kurz, was das eigentlich ist. Die aufgedunsene Schwester von Cinderella? "Nein, tut mir leid."
"Ach..." Ihr Blick war an einer Packung Gesichtswurstscheiben hängen geblieben. "Macht nichts."
Tatsächlich wirkte Frau Dingens etwas abwesend. "Was ist los mit Ihnen?" erkundigte ich mich und hatte somit endgültig aus dem anfänglichen Fettnäpfchen befreit. "Geht es Ihnen nicht gut?"
"Ach, doch. Doch, doch," antwortete sie hastig und löste mühsam ihren Blick von den Gesichtswurstscheiben. "Es ist nur so, ich habe gestern einen Film gesehen, der lässt mich nicht mehr los."
"Aha."
"Hat mich ganz schön mitgenommen."
"Was war es denn?"
"Persepolis. Kennen Sie den?"
"Na, ich hab ihn leider nicht gesehen. Aber ein paar Bilder, und worum es geht weiß ich auch."
"Ach so."
"Ja ja," fügte ich hinzu als gäbe es kein Morgen, keine Mortadella und auch sonst nichts. "Ich hab mal eine Art Live-Hörspiel zu diesem Thema inszeniert. Von Herrschern und Datteln, das finden Sie auf meiner Homepage."
"Geschrieben haben Sie es auch, wie ich Sie kenne," sagte sie und lächelte ein wenig. Hier spar ich mir das Fragezeichen, denn die Frage von Frau Dingens war - sozusagen - mega-rhetorisch.
"Klar. Fraglos. Aber jetzt muss ich weiter," (was nicht gelogen war) murmelte ich in einen imaginären Karl-Marx- oder Gott-Bart, den ich nicht besitze, und machte mich eilig auf den Weg in Richtung Kasse (vom Klassenkampf zum Kassenkampf, das bringt den Fortschritt des Westens auf den Punkt).
"Schauen Sie sich den Film an!" hörte ich Frau Dingens noch rufen. Dann ein Scheppern, scheinbar war sie gegen ein Regal gelaufen.

Persepolis ist eine Schande, wenn man mit dem Thema recht intim ist. Keine Schande für Marjane, die hier ihre Geschichte erzählt, auch keine Schande für die Zeichner (es ist ein Comic) oder die Musik oder sonst wen aus der Produktion. Es ist eine Schande für den Iran, dass ein solcher Film die Wahrheit erzählt. Wohlgemerkt für den Iran (seit der islamischen Revolution), nicht für Persien (seit mehr als 3000 Jahren).
Die politische Entwicklung des Iran wird hier sehr schön und eingänglich erzählt. Wie sich aus einer englischen Kolonie das Schah-Regime entwickelte, des weiteren einer der grausigsten und unsinnigsten Kriege unserer Zeit, der siebenjährige ´Konflikt´ zwischen Iran und Irak. (Nebenher bemerkt, im Film - glaub ich - leider nicht erwähnt: Offiziell unterstützten die USA den Irak mit Waffen. Als sich der Krieg schnell zu Gunsten des Irak entwickelte, lieferten die USA, heimlich, Waffen auch an den Iran. Der Krieg wurde lange Jahre so am Leben gehalten, mit dem Geld wurden die Contra-Putschisten in Nicaragua finanziert. Iran-Contra-Affäre. Klingelt´s?) Und natürlich das Leid der Bevölkerung. Ich (*1980 in Würzburg) kann nur sagen: sehr realistisch.
Spontan fällt mir da folgendes zu ein: fast alle meine Freunde und Verwandten und Bekannten würden gerne etwas gegen den Hunger in der Welt unternehmen. Aber wo kommen die Spenden an, zum Teil wohl bei den Waffenkäufen der Unterdrücker. Hätt´ ich einen Bomber, würd´ ich ihn mit Nahrung füllen und andauernd ´Kampf´einsätze fliegen. Hab´ ich aber nicht. Summa summarum: die Welt wäre um vieles einfacher, könnte man Essen per eMail verschicken.
Persepolis ist wunderschön gezeichnet. Einfach zwar, aber treffend. Und zum Großteil in Schwarz-Weiß. Die Charaktere haben das, weshalb man sie so nennt, und davon nicht zu knapp. Und auch akustisch ist Persepolis nicht ohne, wenn da ungeniert der Wiener Schmäh zur Schau getragen wird. Großartig! Es ist kein übermäßig dramatisierter Film, oft genug ist man vorm Bildschirm gar mit Lachen beschäftigt, und doch...

"Junger Mann!" rief Frau Dingens mit viel Sorge in der Stimme, als wir uns zwei Tage später zufällig beim Bäcker trafen.
"Ähm... ja?"
"Sie sehen aber gar nicht gut aus!"
"Ähm... nein?"
"Nein!" Sie war sich ihrer Sache sicher. "Wirklich nicht."
"Öühm..." gab ich, ihre These unterstützend, laut.
"Was haben Sie gemacht?"
"Ääähh... gemacht?"
"Na ja, irgendwas müssen Sie ja gemacht haben. In so einem Zustand habe ich Sie zuletzt vor Weihnachten gesehen."
Ich grübelte. Grübelte und Grübelte. Das kleine Männchen mit dem Spaten wirbelte durch mein Erinnerungsvermögen. Dann stieß sein Spaten auf eine Truhe. Es öffnete sie. Und neben einem Schwan aus Brot fand es eine Antwort: "Ich hab Persepolis geguckt."


Einstell-Datum: 2010-02-20

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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