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Literaturforum: Mark Twain - Der geheimnisvolle Fremde


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Forum > Rezensionen > Mark Twain - Der geheimnisvolle Fremde
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 Thema: Mark Twain - Der geheimnisvolle Fremde
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 31.08.2017 um 21:03 Uhr

Das ist eine Erzählung aus Mark Twains letzten Lebensjahren. Er starb 1910 und hinterließ mehrere unveröffentlichte Fassungen des Stoffs. Sein Biograph Albert Bigelow Paine stellte daraus jene her, die 1916 erstmals in Buchform erschien. Auf diese, die übersetzt auch in Hansers Ausgabe der Gesammelten Werke von 1965 enthalten ist, bezieht sich das Folgende – nicht auf spätere Buchausgaben.

Der Stoff: Der Engel Satan, Neffe des gleichnamigen Höllenfürsten und dem Onkel durchaus geistesverwandt, erscheint 1590 drei Schuljungen in einem abgelegenen österreichischen Dorf. Er führt Zauberkunststücke in großem Stil vor und diskutiert mit ihnen die großen Fragen von Philosophie, Religion und Geschichte. Daneben greift er in die laufenden Ereignisse im Dorf ein, mit zum Teil tödlichen Folgen. Der Gehalt ist also zugleich philosophisch wie theologisch und auch historisch-politisch. Mark Twain hat daraus eine Geschichte in volkstümlichem Ton gemacht, die formal an seine früheren großen Romane anknüpft. Wie schafft er das bei derart schwergewichtiger Problematik? Er schildert den Ablauf aus spätkindlicher Perspektive – wie die Schuljungen alles erleben – und siedelt den Stoff in einem kleinen hinterwäldlerischen Dorf dreihundert Jahre vor seiner Zeit an. Damit schafft er zugleich Distanz wie Nähe. Der zeitliche Abstand lässt uns die großen Zusammenhänge besser erkennen, das Vertraute schafft dagegen erst die Möglichkeit der Identifikation. Wir dürfen annehmen, dass Kinder um 1600 nicht viel anders auf eine für sie neue Welt reagiert haben als die um 1900. Und das Dorf als kleinste geschlossene Siedlungseinheit ist ebenso in seinen Grundzügen über die Jahrhunderte unverändert geblieben, bis zu Mark Twain jedenfalls. Die dritte Eigenschaft, die den schwierigen Stoff dem Leser näherbringt, ist der gelegentlich humoristisch-sarkastische Ton.

Wie ist der Autor Mark Twain in der erzählten Geschichte selbst enthalten? Er ist es auf dreifache Weise. Einmal spiegelt sich in der Satan-Figur deutlich die Lebensauffassung des alten Mark Twain. Der Dorfjunge Theodor Fischer, also der Ich-Erzähler, vertritt dagegen den jungen, noch unreifen, doch schon kritischen Samuel Langhorne Clemens, wie Mark Twain bürgerlich hieß. Nun werden zwar die Geschehnisse aus der Perspektive des Knaben Theodor berichtet, niedergeschrieben sind sie allerdings von diesem „ein Menschenalter“ später. Der gereifte Ich-Erzähler bildet also die vermittelnde Instanz zwischen dem alterspessimistischen Mark Twain um 1910 und dem vitalen jungen Burschen, der er einst selbst war. Ob die gelegentlichen Anachronismen beabsichtigt oder Flüchtigkeitsfehler sind, bleibt offen.

Fazit: Mark Twains lange Erzählung kommt formal als Kindergeschichte mit Schauereffekten daher, stellt dahinter aber ein Selbstgespräch des Autors über „letzte Dinge“ dar, wie z.B. den freien Willen oder die Unterscheidung von Gut und Böse. Ob das Ergebnis als literarisch geglückt anzusehen ist, ist nicht leicht zu entscheiden. Auf jeden Fall ist es ein aufschlussreiches Zeugnis für das Denken des großen, sehr erfolgreichen Autors gegen sein Lebensende hin. Damals war er radikal pessimistisch und nihilistisch, so sehr, dass er den Großteil seiner späten Produktion für sich behielt. Diese Radikalität äußert sich sprachlich wie begrifflich formvollendet in Satans letzten Worten so:

„Es stimmt, was ich dir enthülle; es gibt keinen Gott, kein Weltall, kein Menschengeschlecht, kein irdisches Leben, keinen Himmel, keine Hölle. Es ist alles ein Traum – ein grotesker und törichter Traum. Nichts existiert, nur du. Und du bist bloß ein Gedanke – ein schweifender Gedanke, ein nutzloser Gedanke, ein heimatloser Gedanke, der inmitten leerer Ewigkeiten umherirrt.“ (Zitiert nach der Übersetzung von Otto Wilck.)

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Itzikuo_Peng
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.09.2017 um 12:02 Uhr

Zitat:

... es gibt keinen Gott, kein Weltall, kein Menschengeschlecht, kein irdisches Leben, keinen Himmel, keine Hölle. Es ist alles ein Traum – ein grotesker und törichter Traum. Nichts existiert, nur du. Und du bist bloß ein Gedanke – ein schweifender Gedanke, ein nutzloser Gedanke, ein heimatloser Gedanke, der inmitten leerer Ewigkeiten umherirrt ...

Genau. Weiter noch: Wir wurden nicht mal geboren und wir werden nicht sterben. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Zen


Miau
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ArnoAbendschoen
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.09.2017 um 21:08 Uhr

Danke. Itzikuo_Peng, für den wertvollen Hinweis. Ja, mir selbst kam manches (nicht alles) von Satans Lehren für die Knaben fernöstlich beeinflusst vor. Da ich jedoch bisher keinen Anhaltspunkt dafür habe, dass Mark Twain tatsächlich solche Bezüge hatte, wagte ich nicht, diesen Gedanken in meinem Text unterzubringen. Ich werde dem im Lauf der nächsten Zeit gesondert nachgehen, auch erstmals nach Jahrzehnten seine späten Texte wieder lesen (Autobiographie, Briefe von der Erde).

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ArnoAbendschoen
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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 17.12.2017 um 00:16 Uhr

Als Nachtrag zu der oben angeschnittenen Frage, wie "buddhistisch" Mark Twains Gedankenwelt war, noch ein Zitat aus seiner "Autobiographie":

"Das Nichts hat für mich keine Schrecken, denn ich habe es bereits ausprobiert, bevor ich geboren wurde - hundert Millionen Jahre lang - und ich habe in diesem Leben in einer einzigen Stunde mehr gelitten, als meiner Erinnerung nach in den ganzen hundert Millionen Jahren. In ihnen waren Frieden und Heiterkeit, Freiheit von jeder Verantwortung, Sorge, Qual und Verwirrung. Und eine tiefe Gelassenheit, eine unaufhörliche Zufriedenheit herrschte in jener hundert Millionen Jahre währenden Feiertagsruhe, auf die ich in wehmütiger Sehnsucht zurückblicke, und die ich dankbar fortsetzen werde, wenn die Zeit dazu gekommen ist." (Übersetzung: Gertrud Baruch)

Wie üblich bei Mark Twain ist das alles zugleich ironisch gebrochen und von tiefem Gefühl - hier Altersdepression nach Schicksalsschlägen - durchdrungen, also in sich widersprüchlich. Und wenig buddhistisch erscheint auch der Zusammenhang hier: erbitterte Abrechnung mit einigen, die seinen Weg gekreuzt hatten. Es hat etwas von (sehr abendländischer) Attitüde an sich, wenn auch glänzend formuliert.

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Itzikuo_Peng
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4. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 18.12.2017 um 14:35 Uhr

Danke für den Nachtrag, kann ich jetzt ein Häkchen setzen, hatte immer mal wieder gedacht, könnte ja noch was zu kommen. Klar will man leben und wird geboren und stirbt - als der aktuelle atomische Haufen, der man nun mal ist. Doch die Vorstellung, so in die Verwandlung einzugehen, zurückzugehen (oder nach vorne oben unten wie auch immer), und nicht mehr jeden Tag die Suppe erst kochen und dann löffeln oder gar was Eingebrocktes auslöffeln zu müssen, ja, die hat schon was Beruhigendes. Daher wohl auch der Spruch: Er hat den Löffel abgegeben.


Miau
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