ein wunderbarer Sonnabend geht gerade zu Ende. Gut, ich musste ihn in Berlin verbringen, das mache ich sonst kaum noch. Berlin ist für mich wenig mehr als ein bequemes Sprungbrett nach Osteuropa und zum Rest der schönen Welt; ein notwendiges Übel, denn im übrigen Deutschland lebt es sich vermutlich noch übler als hier. Ich schließe die Augen, ich öffne sie - und sehe ein müdes, vergreistes Deutschland voller egoistischer Menschen, das die letzten zwanzig Jahre in vieler Hinsicht verschlafen hat, sehe ein Land, in dem es wenigen sehr und vielen nicht besonders gut geht. Das hat sehr wenig mit der aktuellen Krise zu tun - sie ist nur ein Vorhangöffner, der uns in ganz brutaler Ehrlichkeit zeigen wird, wie es wirklich um unser Land bestellt ist und welche große Krise eigentlich auf uns wartet. Dagegen ist dieses Fledermaus-Schuppentier-Wildmarkt-Zeug gar nichts.
Mir selbst geht es materiell ganz gut, das war sehr lange nicht so. Dafür bin ich immer wieder dankbar. Abends gab es Lammkeule aus dem Ofen, aromatisiert mit Rosmarin und Knoblauch, daneben einen wohlgeformten Hügel Perlgraupen. Das ist beinahe feudal - aber es ist ja schon fast Ostern. Sonst koche ich eher vegetarisch bis vegan, aber ich mag es auch, mich nicht festzulegen. Vielleicht habe ich deswegen trotz aller Abneigung ein wenig weiter im Zauberberg gelesen. Stilistik und erzählerisches Handwerk bilden eine Seite, die mich bei Thomas Mann nicht überzeugt (all dieses überflüssige, zusammengesponnene Geschwafel, das aufgeschwatzte Beiwerk, die nebensächlichsten Nebensächlichkeiten, die unzähligen aufdringlichen Adjektive, das verzweifelte Ringen um den besonderen Ausdruck und Deutschlandruhm), aber seine abwesende Moral erzeugt Abscheu in mir. Die Massen sind, die Gesellschaft ist seit jeher etwas, das meinen Argwohn erregt hat. Ich bin nicht wie ihr, ihr seid nicht wie ich. Nicht so Thomas Mann: Er möchte als ein Fettauge neben anderen obenauf schwimmen in diesem grässlichen Gesellschaftseintopf, obwohl er selbst nur Bodensatz ist. Und trotzdem, und trotzdem habe ich in dem Buch ein Zitat gefunden, das ein wenig in unsere jetzige besondere Zeit passt, denn irgendwie befinden wir uns alle gerade in diesem Schweizer Sanatorium:
Zitat:
“Aber die Zeit muß euch eigentlich schnell hier vergehen” meinte Hans Castorp.
“Schnell und langsam, wie du nun willst”, antwortete Joachim. “Sie vergeht überhaupt nicht, will ich dir sagen, es ist gar keine Zeit, und es ist auch kein Leben, - nein, das ist es nicht”, sagte er kopfschüttelnd und griff wieder zum Glase.
“Aber die Zeit muß euch eigentlich schnell hier vergehen” meinte Hans Castorp.
“Schnell und langsam, wie du nun willst”, antwortete Joachim. “Sie vergeht überhaupt nicht, will ich dir sagen, es ist gar keine Zeit, und es ist auch kein Leben, - nein, das ist es nicht”, sagte er kopfschüttelnd und griff wieder zum Glase.
Es ist nicht der Griff zum Glase, den ich hier bemerkenswert finde.
Für morgen werden frühlingshafte Temperaturen erwartet. Ich freue mich und frage mich aber auch immer öfter, was ich mache, wenn der ganze dumme Spuk einmal vorbei ist: Sicherlich erst einmal verreisen. Wahrscheinlich habe ich Dir diesen Gedanken schon öfter mitgeteilt. Was soll es. Was soll alles.
Dein K
PS: In den Berliner Russenmärkten gibt es immer kostenlose Zeitungen für ein russischsprachiges Publikum, unter anderem den “Aussiedlerboten”. Die aktuelle Ausgabe widmet ihre letzten vier Seiten Bestattungsthemen, kurz davor gibt es aber auch einen erheiternden Abschnitt mit Anekdoten / Witzen, die sogar einigermaßen aktuell sind:
“Ich gehe nun schon zum dritten Mal diese Woche einkaufen - für zwei Wochen”. Dieser russische Humor gefällt mir. Vieles andere aus und in Russland gefällt mir nicht.
PPS: Ich würde morgen gern wieder eine Sonntagsmesse sehen, aber qualitativ gibt es da ja sehr große Schwankungen. Die Mainzer Messe vor zwei Wochen im ZDF war eine blutlose Vorstellung, es kann nur besser werden. Zum Glück bin ich in keinem christlichen Verein Mitglied, das wäre ja wie beim Fußball: Egal, wer für die Mannschaft spielt, egal, wie sie spielt, egal, wer der Hauptsponsor ist - immer steht man zum Verein. Im Prinzip ist das Strukturliebe, die Inhalte sind auswechselbar.
PPPS: Bill Evans läutet die Nacht ein.
PPPPS: Der 04.04.2020 ist ein schönes Datum. Fast so schön wie der 02.02.