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Literaturforum: Berliner Tagebuch, 04.04.2020 - Perlgraupen


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Forum > Sonstiges > Berliner Tagebuch, 04.04.2020 - Perlgraupen
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 Thema: Berliner Tagebuch, 04.04.2020 - Perlgraupen
Kenon
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 05.04.2020 um 01:02 Uhr

Liebes Tagebuch,

ein wunderbarer Sonnabend geht gerade zu Ende. Gut, ich musste ihn in Berlin verbringen, das mache ich sonst kaum noch. Berlin ist für mich wenig mehr als ein bequemes Sprungbrett nach Osteuropa und zum Rest der schönen Welt; ein notwendiges Übel, denn im übrigen Deutschland lebt es sich vermutlich noch übler als hier. Ich schließe die Augen, ich öffne sie - und sehe ein müdes, vergreistes Deutschland voller egoistischer Menschen, das die letzten zwanzig Jahre in vieler Hinsicht verschlafen hat, sehe ein Land, in dem es wenigen sehr und vielen nicht besonders gut geht. Das hat sehr wenig mit der aktuellen Krise zu tun - sie ist nur ein Vorhangöffner, der uns in ganz brutaler Ehrlichkeit zeigen wird, wie es wirklich um unser Land bestellt ist und welche große Krise eigentlich auf uns wartet. Dagegen ist dieses Fledermaus-Schuppentier-Wildmarkt-Zeug gar nichts.

Mir selbst geht es materiell ganz gut, das war sehr lange nicht so. Dafür bin ich immer wieder dankbar. Abends gab es Lammkeule aus dem Ofen, aromatisiert mit Rosmarin und Knoblauch, daneben einen wohlgeformten Hügel Perlgraupen. Das ist beinahe feudal - aber es ist ja schon fast Ostern. Sonst koche ich eher vegetarisch bis vegan, aber ich mag es auch, mich nicht festzulegen. Vielleicht habe ich deswegen trotz aller Abneigung ein wenig weiter im Zauberberg gelesen. Stilistik und erzählerisches Handwerk bilden eine Seite, die mich bei Thomas Mann nicht überzeugt (all dieses überflüssige, zusammengesponnene Geschwafel, das aufgeschwatzte Beiwerk, die nebensächlichsten Nebensächlichkeiten, die unzähligen aufdringlichen Adjektive, das verzweifelte Ringen um den besonderen Ausdruck und Deutschlandruhm), aber seine abwesende Moral erzeugt Abscheu in mir. Die Massen sind, die Gesellschaft ist seit jeher etwas, das meinen Argwohn erregt hat. Ich bin nicht wie ihr, ihr seid nicht wie ich. Nicht so Thomas Mann: Er möchte als ein Fettauge neben anderen obenauf schwimmen in diesem grässlichen Gesellschaftseintopf, obwohl er selbst nur Bodensatz ist. Und trotzdem, und trotzdem habe ich in dem Buch ein Zitat gefunden, das ein wenig in unsere jetzige besondere Zeit passt, denn irgendwie befinden wir uns alle gerade in diesem Schweizer Sanatorium:

Zitat:

“Aber die Zeit muß euch eigentlich schnell hier vergehen” meinte Hans Castorp.
“Schnell und langsam, wie du nun willst”, antwortete Joachim. “Sie vergeht überhaupt nicht, will ich dir sagen, es ist gar keine Zeit, und es ist auch kein Leben, - nein, das ist es nicht”, sagte er kopfschüttelnd und griff wieder zum Glase.

Es ist nicht der Griff zum Glase, den ich hier bemerkenswert finde.

Für morgen werden frühlingshafte Temperaturen erwartet. Ich freue mich und frage mich aber auch immer öfter, was ich mache, wenn der ganze dumme Spuk einmal vorbei ist: Sicherlich erst einmal verreisen. Wahrscheinlich habe ich Dir diesen Gedanken schon öfter mitgeteilt. Was soll es. Was soll alles.

Dein K

PS: In den Berliner Russenmärkten gibt es immer kostenlose Zeitungen für ein russischsprachiges Publikum, unter anderem den “Aussiedlerboten”. Die aktuelle Ausgabe widmet ihre letzten vier Seiten Bestattungsthemen, kurz davor gibt es aber auch einen erheiternden Abschnitt mit Anekdoten / Witzen, die sogar einigermaßen aktuell sind:
“Ich gehe nun schon zum dritten Mal diese Woche einkaufen - für zwei Wochen”. Dieser russische Humor gefällt mir. Vieles andere aus und in Russland gefällt mir nicht.

PPS: Ich würde morgen gern wieder eine Sonntagsmesse sehen, aber qualitativ gibt es da ja sehr große Schwankungen. Die Mainzer Messe vor zwei Wochen im ZDF war eine blutlose Vorstellung, es kann nur besser werden. Zum Glück bin ich in keinem christlichen Verein Mitglied, das wäre ja wie beim Fußball: Egal, wer für die Mannschaft spielt, egal, wie sie spielt, egal, wer der Hauptsponsor ist - immer steht man zum Verein. Im Prinzip ist das Strukturliebe, die Inhalte sind auswechselbar.

PPPS: Bill Evans läutet die Nacht ein.

PPPPS: Der 04.04.2020 ist ein schönes Datum. Fast so schön wie der 02.02.

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ArnoAbendschoen
Mitglied

718 Forenbeiträge
seit dem 02.05.2010

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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 05.04.2020 um 17:34 Uhr

Deine harsche Mann-Kritik, Kenon, hat mich zum Nachdenken veranlasst. Als sehr junger Mensch las ich ihn viel und gern, verknüpfte eigene Problematik mit Themen bei ihm. Später kam ich ganz von ihm ab, da mir andere (jüngere) Autoren viel mehr vermitteln konnten. Scharf distanziert habe ich mich jedoch nie von ihm.

Zwei Erklärungsansätze, warum er einen heute abstoßen kann. Einmal ist Th. Mann ein Mensch ganz des späten 19. Jahrhunderts. Sein literarischer Stil ist ironisierter Wilhelminismus. Ebenso wie über die von dir kritisierten Eigenheiten kann man sich auch über eine gründerzeitliche Bahnhofsfassade ärgern. Er ist Literaturgeschichte und insofern interessant, aber natürlich kein Beispiel für die Heutigen.Mann gehört nicht zu der Generation, die um 1890 geboren wurde und die literarische Moderne begründete.

Seine von dir ebenfalls ganz richtig gesehene Repräsentationssucht hat wohl auch einen sozialen und ökonomischen Hintergrund. Als Sohn einer abgestiegenen Patrizierfamilie lag ihm viel daran, Reputation zu erwerben, etwas Großes darzustellen - auf seinem Gebiet. Und als Oberhaupt einer nicht gerade kleinen Familie war er auch darauf angewiesen, als Autor gut zu verdienen. Für Musil war er ein "Großschriftsteller", analog dem Großkaufhaus. Ja, aber hat damit sich und die Seinen durch sehr schwierige Zeiten gebracht und die projektierten Werke fast alle zu Ende geschrieben.

Einige seiner Formulierungen sind inzwischen klassisch zitierfähig, z.B. "Die Vorzeichen mehrten sich" oder "Jenem diabetischen Greise waren die Selbsterhaltungsinstinkte so weit abhanden gekommen, dass usw.". Der Unterschied zu Schillerzitaten: Die von Mann wirken nicht unfreiwillig komisch, da sie von Anfang an ironisch waren. Darin wenigstens, in diesem Umgang mit Sprache, sehe ich etwas Zeitloses.

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Kenon
Mitglied

1481 Forenbeiträge
seit dem 02.07.2001

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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 05.04.2020 um 23:20 Uhr

Vielen Dank für Deine für mich nachvollziehbaren Ausführungen, Arno. Du hast Recht: Die Kritik ist harsch, aber so empfinde ich. Da stellt sich natürlich die Frage, ob man das dann nicht besser für sich behält und seine Energie auf etwas verwendet, das konstruktiver ist. Das kann man machen, aber auf einer Meta-Ebene ändert das nichts, weil die Meinung bestehen bleibt, auch wenn sie nicht ausgesprochen wird.

Man kann das sicherlich alles irgendwie herleiten und begründen, warum Thomas Mann genau der Schriftsteller war, der er war, aber das macht sein Werk für mich keinen Deut interessanter. Wenn mich ein Schriftsteller packt, dann werde ich zum Fanatiker und lese nach Möglichkeit alles, was er fabriziert hat, um einen annähernd vollständigen Eindruck zu bekommen. Zu dieser Kategorie gehört Thomas Mann für mich definitiv nicht und er wird wahrscheinlich nie dazu gehören. Was bleibt, ist, den Zauberberg aus historischem Interesse zu lesen - das ist ja auch der Grund, warum ich vor vielen Jahren überhaupt auf ihn aufmerksam geworden bin: Wegen der Figur des Herrn Naphta, deren Vorlage mich aber inzwischen selbst nicht mehr besonders beschäftigt, obwohl ich einmal fast alles von ihr gelesen habe.

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