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Literaturforum: Dezember 2020


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 Thema: Dezember 2020
Kenon
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 01.12.2020 um 23:55 Uhr

James C. Scott - Against the Grain: A Deep History of the Earliest States

Bei Scott wird der Getreideanbau als Grundlage der Staatenbildung - hauptsächlich in Mesopotamien - während der Jungsteinzeit / dem Neolithikum dargestellt. Epitom des nicht gerade guten Staates ist für Scott der Steuereintreiber. Nebenbei versucht der Autor, Jäger und Sammler - oder allgemein “Barbaren” zu rehabilitieren, die seiner Auffassung nach oftmals ein freieres Leben genießen konnten.

Zitat:

If the formation of the earliest states were shown to be largely a coercive enterprise, the vision of the state, one dear to the heart of such social-contract theorists as Hobbes and Locke, as a magnet of civil peace, social order, and freedom from fear, drawing people in by its charisma, would have to be reexamined.

Diesen frühen Teil unserer Geschichte mal etwas anders zu betrachten, als man es in der Schule gelernt hat, macht Spaß, aber je weiter man in der Zeit zurückgeht, um so mehr begibt man sich in die Welt der Spekulation. Bei Scott wird viel spekuliert, aber der Spaß bleibt.

Einen ganz aktuellen Bezug bekommt das 2017 erschienene Buch, wenn es immer wieder vom Einfluss der Zoonosen auf den Verlauf der Menschheitsgeschichte spricht:

Zitat:

Little wonder, then, that southeast China, specifically Guangdong, probably the largest, most crowded, and historically deepest concentration of Homo sapiens, pigs, chickens, geese, ducks, and wild animal markets in the world, has been a major world petri dish for the incubation of new strains of bird and swine flu.

Epidemien haben bereits früher ganze Städte und Staaten ausgelöscht, aber der Mensch ist noch immer da.

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Kenon
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 09.12.2020 um 00:07 Uhr

Noreena Hertz - The Lonely Century: Coming Together in a World that´s Pulling Apart

Noreena Hertz hat ein Buch geschrieben, das ganz in unsere Zeit passt: “In the lonely Century” geht es um die Einsamkeit des postmodernen Menschen mit all der ihn umgebenden Technik, um die Verschärfung der Einsamkeit während der Corona-Pandemie und um positive Ausblicke in eine von uns allen besser zu gestaltenden Zukunft nach dieser.

Zitat:

56% of Londoners said they felt lonely and 52% of New Yorkers said their city was ‘a lonely place to live’

Hertz zeigt auf, dass Einsamkeit ein endemisches Problem unserer Zivilisation ist; sie versucht nachzuvollziehen, wie es dazu kommen konnte, welche Auswirkung sie auf das Individuum als auch die Gesellschaft hat und was wir tun könnten, um das Problem in den Griff zu bekommen. Zu loben ist der tiefe Humanismus, der aus Hertz spricht, die sorgende Ernsthaftigkeit, mit der sie sich des Themas annimmt. Manches leider wird sehr verkürzt dargestellt, beispielsweise, wenn aus einem Experiment mit vereinsamten Mäusen, die aggressiv werden, wenn sie wieder Gesellschaft bekommen, auf den Menschen geschlossen wird: Wir sind genauso!; oder wenn zum hunderttausendsten Mal wiedergekaut wird, dass die Fremdenfeindlichkeit dort am größten sei, wo am wenigsten “Fremde” lebten und diese sich dadurch selbst disqualifiziere, oder wenn als Mittel gegen Einsamkeit ein Handyverbot und schlicht das Fördern öffentlicher Bibliotheken als kommunaler Begegnungsstätte empfohlen wird.

Ich denke trotzdem, dass das Buch von Hertz wichtig ist und zu geeigneter Zeit erscheint. Es hält uns klar vor Augen, in was für einer Welt wir (inzwischen) leben. Allerdings stecken wir als in dieser Zeit lebende Menschen auch in einem Dilemma: Einerseits sind wir verliebt in unsere “ungebundene” Individualität und froh, wenn wir bspw. im öffentlichen Nahverkehr nicht auf die Menschen um uns schauen müssen, mit denen wir sowieso nichts zu tun haben wollen, und uns stattdessen mit unserem Smartphone beschäftigen können, andererseits sind wir soziale Wesen, die Interaktionen mit anderen Menschen brauchen, um nicht zu leiden. Durch die Entwicklung der Technik sind wir jedoch alle ganz unnatürliche Kreaturen. Daraus gibt es keinen Ausweg und uns bleibt wenig anderes, als immer weiter bis zum Ende unserer Spezies zu schreiten, bis wir uns hegelesque unserer Körper entledigen und im Weltgeist aufgehen, allerdings haben wir auch einen gewissen Gestaltungsspielraum:

Zitat:

those who live on streets with low volumes of road traffic have three times as many social connections, friends and acquaintances as people who live on more heavily travelled streets.

Bevor wir als Art aussterben, könnten wir wenigstens die Autos noch aus unseren Städten verbannen.

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Kenon
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 17.12.2020 um 23:20 Uhr

Aurel Kolnai - Ekel Hochmut Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle

Drei Essays aus den Jahren 1929 bis 1935, geschrieben in der Tradition der Husserlschen Phänomenologie. Hier wird einmal mehr gezeigt, was der Mensch mit der Sprache anstellen kann - und zugleich, woran er im Gebrauch dieser scheitert. Das Themengebiet ist interessant und auch nicht “überbevölkert”. Kann Kolnai zum Erkenntnisgewinn beitragen? Ich fürchte: Nicht sonderlich, aber er bietet einem eine angenehme geistige Unterhaltung. Ekel, Hochmut und Haß sind als Gefühle selbstverständlich rein subjektive Erscheinungen, Kolnai versucht, sie philosophierend-verallgemeinernd zu erfassen und kann ja letztlich doch nur aus seinen eigenen Erfahrungen schöpfen, ohne sich das selbst oder uns einzugestehen. Viele von Kolnais Behauptungen werden nicht weiter fundiert, man kann sie als Leser nur akzeptieren oder verwerfen. Zeitgeschichtlich bedingt sind die Essays biologistisch und vital-philosophisch eingefärbt, teilweise sogar homophob.

Im Zusammenhang mit dem Ekel kommt Kolnai auch ein wenig zufällig auf den Zauberberg von Thomas Mann zu sprechen; er erkennt darin
Zitat:

eine zwecklos-subtile, subjektivistisch-schwelgerische, im Herzensgrund gegenstandsgleichgültige Überverfeinerung oder Schwulstigkeit der Denk- und Darstellungsweise …

Zitat:

Das Ekelhafte grinst, starrt und stinkt uns “an”.

Malgorzata Ruchniewicz - Das Ende der Bauernwelt: Die Sowjetisierung des westweißrussischen Dorfes 1944–1953

Wer die Gegenwart einer Nation verstehen will, muss auch ihre Vergangenheit kennen. Belarus ist im Jahre 2020 durch die gefälschten Wahlen Lukaschenkas und die sich daran anschließenden Proteste der Bevölkerung, die vom Regime mit brutaler Gewalt unterdrückt wurden und werden, wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit geraten. Malgorzata Ruchniewicz, eine schlesische Historikerin, konzentriert sich in ihrer Monographie auf die westlichen Teile von Belarus, die einst zu Polen gehörten. Sie wurden im Zuge der Umsetzung des Hitler-Stalin-Paktes durch die Sowjetunion besetzt, der Sowjetunion durch das Dritte Reich abgenommen und dann wieder durch die Sowjetunion besetzt. Lange Zeit versuchten - ähnlich wie in der Ukraine - anti-sowjetische Partisanen, ihr Land zu befreien. Vergeblich. Es ist eine Befreiungskampf, der auch heute noch andauert: Die Befreiung vom russischen Imperialismus und Militarismus. Mit welchen Methoden das westliche Belarus zerstört und unterworfen wurde, lässt sich bei Ruchniewicz nachlesen. Es ist ein sowjetisches Muster, das sehr ähnlich auch in anderen Ländereien wie dem Baltikum angewendet worden ist. Es ist ein russisches Muster der Landnahme, Vergewaltigung, Einverleibung und Auslöschung.

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