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Stadt und Land - Eine Reiseerzählung
Autor: ArnoAbendschoen · Rubrik:
Erzählungen

Müde, denkt Augustin, ich bin großstadtmüde … Er sitzt seit sieben Stunden im Intercity. Endlich ist das Gewimmel der Hügel und Gebirglein vorüber und der Zug nähert sich der alten Reichsstadt, die sein erstes Ziel ist. Oberdeutsch, denkt er, schönes, altertümliches Wort … Ob sich etwas davon erhalten hat? Er ahnt schon, dass er kaum einen Überrest finden wird. Aber was gibt es sonst auf dieser Hochebene zu entdecken? Vorausgesetzt, es gelingt ihm, überhaupt etwas Eigentümliches aufzuspüren.

Am Bahnhof stehen fürchterliche Häuser, das könnte auch in Wandsbek sein. Er will das triste Viertel rasch hinter sich bringen. Nur nicht Notiz nehmen von dieser Öde, man reist doch, um angenehme Eindrücke zu gewinnen. Die Fußgängerunterführung – so schaurig, dass er noch schneller geht – mündet in eine Fußgängerzone, die den Bahnhof mit dem Münster verbindet. Baut Fußgängerzonen für Ameisen! Wo hat er diesen Spruch gelesen – irgendwo hingesprüht auf eine Wand aus Beton oder den mürben Kalkstein einer alten Kirche, eine jener stillen Inseln für Beter, wie’s in den Prospekten heißt. Für jedes Bedürfnis ist ja heutzutage vorgesorgt.

Der Reisende findet dieselben Filialgeschäfte und Kaufhäuser wie zu Hause. In jeder fremden Stadt schafft ihre Anordnung entlang den breiten und belebten Gassen neue Muster aus schon Bekanntem. Einmal die Luxusarmbanduhren neben den Umstandsmoden, dann das landesweit führende Parfümeriegeschäft, gefolgt vom billigen Seifenladen und dem Kaffee aus Hamburg und dem Warenhaus, dessen Zentrale in Essen ist. Oder die Seife neben den Umstandsmoden und dann das Warenhaus mit der Zentrale in Köln. Und wiederum die Uhren neben der Seife im Schatten des Essener Kaufhauskonzerns. Oder gar die Seife zwischen noch zwei konkurrierenden Großkaufhäusern. (Die Zentrale ist immer woanders.) Und die Form folgt brav der Funktion. Also noch einmal die unübertroffene Fassade von Eiermann, noch einmal das Regenbogenmotiv ums Textilkaufhaus – Wagner ist doch vorteilhafter – und alle Brillengeschäfte jetzt durchsichtig wie Kontaktlinsen und mit viel Plastikpupillenweiß …

Wo steckt das Besondere in diesem Potpourri, die lokale Zutat zum nationalen Brei? Sind es vielleicht die Bäckereien, die hier süßes Backwerk in großer Vielfalt feilbieten und jede Sorte in riesigen Mengen? In dieser Stadt, so scheint es, haben Bäcker den stärksten Zulauf. Überall, wo Seitenstraßen einmünden, sieht Augustin kuchenverzehrende Einkäufer stehen. Zwischen ihnen fällt sein Blick (nicht jener der Esser) auf Plakate, hastig und schief geklebte Flugblätter. Da ist von Raketen und Bomben die Rede, auch das kennt er schon …

Im Strom der Passanten fallen ihm vereinzelt Schwarze auf. Kräftige Burschen sind das, manche hünenhaft, manche eher fett. Sie tragen ihre Baumwollsachen salopper als die Einheimischen. Ihre Jeans und Shirts bedecken die Körper bloß, betonen die Figuren nicht. Augustin weiß, dass es Militärpersonen sind, doch sträubt er sich, zwischen ihnen und den Flugblättern eine Gedankenverbindung herzustellen. Freilich, die Raketen in der Nähe … Vor diesem Gedanken will er die schwarzen Männer in Schutz nehmen. Vielleicht kommen sie aus den Slums von Chicago, sind froh, überhaupt einen Job gefunden zu haben? Und dann fallen sie aufgrund ihrer Hautfarbe schneller auf als ihre weißen Kameraden, ihre weißen Vorgesetzten … Nein, sie sind ihm nicht unsympathisch. Aber wahr ist doch auch, er hat noch nie mit einem Schwarzen geschlafen. Ist er insgeheim ein Rassist? Er beruhigt sich damit, dass er sich sagt, erotisches Faible sei keine Frage der Sympathie, sondern von früher Prägung.

Ein Zufall – und die fixen Ideen von Militarismus, Rassismus und leider auch von Narzissmus sind wie weggeblasen. Einer teilt jetzt energisch die sich mischenden und gegeneinander flutenden Menschenströme. Er kommt vom Hamburgerladen und will hinüber zum Kino-Center, wo die Nachmittagsvorstellungen schon laufen. Es ist ein junger Schwarzer, ganz in Schwarz, Anfang oder Mitte zwanzig. Fetischismus oder Oberflächenreiz, das ist jetzt die Frage. Die schwarze Haut unterscheidet sich vom schwarzen Leder nicht mehr als dessen einzelne Partien infolge der Lichtreflexe untereinander. Perfekte Uniformierung bei vollständiger Wahrung des individuellen Ausdrucks, beides durchdringt sich. Kein Weißer erreicht diesen Grad, nicht mal mit der schwarzen Gesichtsmaske, läppische Versuche sind das …

Er sieht nicht wie ein GI aus. Seine Ledersachen sind eng geschnitten, was bei ihm von Vorteil. Augustin kommt ab von seiner bisherigen Richtung, aufs Münster zu. Wo der Schaukasten des Kino-Centers zum Ausweichen zwingt, begegnen sie einander. Der andere fängt den Blick auf und dreht sich im Weitergehen um. Augustin blickt ihm durch die gläserne Vitrine nach. Der andere steht im Eingang und lässt die Augen über die Filmfotos wandern. Jetzt dreht er sich um, bleibt breitbeinig mit dem Rücken zur Kinokasse stehen, verlockend. Wäre man doch ein Mann rascher Entschlüsse … Dem anderen dauern die Präliminarien schon zu lange. Er deutet ein Lächeln an. Und während er langsam zur Kasse schlendert, weist er, smarter Psychagog, mit leichter Kopfbewegung ins Innere des Filmpalastes: ein Weg ins Verheißungsvoll-Ungeheure? Nein, nicht deshalb ist er hierhergefahren.

Augustin geht mechanisch weiter, nimmt erst am Münster die Außenwelt wieder wahr. Der Münsterplatz ist groß wie ein Baseballstadion. Der berühmte Turm: zum Erschrecken hoch. Die Häuser der Stadt, viel zu niedrig am Rand des Platzes, scheinen sich furchtsam vor ihm zurückgezogen zu haben. Vor dem Turm muss heute Markt gewesen sein. Ein Straßenfeger beseitigt die Überreste: geköpfte Astern, Kohlstrünke, verwehte Fetzen von Einwickelpapier. Das Kirchenschiff ist großenteils eingerüstet. Unablässig passieren Besucher das Portal, mit Gesichtern wie vor oder nach einer Kinovorstellung. Augustin will erst morgen hinein. Er bekommt ein Zimmer im Hotel Münsterblick. Der Name verspricht nicht zu viel, aber … Gewiss, auch ein Hotel Meerblick lässt einen niemals die ganze See überschauen, immer nur einen Ausschnitt. Doch blickt man gewöhnlich auf die Wasserfläche hinaus. Der Turm dagegen erfüllt erdrückend das kleine Zimmer, vom Fenster sind nur seine unteren Geschosse zu betrachten. Mit Baugerät ist der Platzausschnitt großenteils vollgestellt. Augustin legt sich aufs Bett und versucht, die wirren Eindrücke zu ordnen.

Nach dem Abendessen liegt er wieder auf dem Bett und entwirft ein Programm für morgen. Die Geräusche der Stadt, durchs offene Fenster hereindringend, scheinen mit schwindendem Tageslicht zuzunehmen. Er geht ans Fenster, stützt sich auf das Bord auf. Die Gehwegpassanten lassen sich von oben nur schwer betrachten. Autos stauen sich auf der schmalen Fahrbahn. Ein kleines Stück Münsterplatz gegenüber ist leer bis auf eine Gruppe junger Streuner. Sie lagern an einem Brunnen, dessen klassizistische Schale kein Wasser mehr füllt, und scheinen die Nacht unter freiem Himmel verbringen zu wollen. Einer hat schon den Kopf auf das Bündel mit seiner Habe gebettet. Augustin sieht noch mehr Plastiktüten, eine Rotweinflasche kreist, der Ruhende trinkt im Liegen. Es sind vier junge Männer und eine junge Frau. Ein schwarzer Schäferhund springt um sie herum und leckt sie der Reihe nach ab. Einer der Männer hat lange braune Locken und einen Vollbart. Er sieht wie die Heiligen bei den Nazarenern aus, vom Herrn Jesus gibt es ähnliche Porträts. Nur trägt er eine weinrote Samtjacke und eine enge weiße Hose, eine wenig jesuhafte Aufmachung; wie überhaupt die pralle untere Körperpartie nicht gerade nazarenisch fromm wirkt. Da hat er was von barocken Putti … Die weiße Hose kommt mit zunehmender Dunkelheit immer mehr zur Geltung. Hat was Obszönes, will mich nicht darauf konzentrieren, denkt Augustin, kehrt zum Bett zurück.

Es hält ihn nicht lange dort. Er löscht das Zimmerlicht und ist erneut am Fenster. Als seine Augen die Dunkelheit gewöhnt sind, sieht er sie drüben wieder. Sie lagern scheinbar in derselben Art wie vorhin. Doch im tiefen Schatten des Riesenturmes hat sich etwas verändert. Die junge Frau kniet vor dem Nazarener – so nennt ihn Augustin jetzt – und umfasst ihn rückwärtig, da wo die Samtjacke aufliegt. Unerhört, sie treiben’s oral-genital! Die Übrigen bedienen sich aus der Weinflasche, der Hund springt immer noch herum. Plötzlich erkennt Augustin unter den Trinkern die junge Frau wieder. Wer kniet dann aber vor dem Nazarener? Nach zwei, drei Minuten lösen sich die zwei aus ihrer engen, wenngleich nur punktuellen Verbindung. Das Wesen, das sich erhebt und gleich zur Flasche greift, hat männliche Züge. Augustin lässt die Jalousie herunter.

Am anderen Morgen regnet es - ein wahrer Landregen, unter dem die Stadt verschwindet. Und wo ist die Kommune vom gestrigen Abend? Geflüchtet, aufgelöst, weggeschwemmt. Wie es aussieht, wird es den ganzen Tag weiterregnen. Augustin will sich das Münster erklären lassen. Um neun beginnt die erste Führung am Hauptportal. Der Markt ist trotz Regen schon in vollem Gang. Er zwängt sich unter den schützenden Planen zur Kirche durch. Fünf vor neun: noch niemand da, seltsam. Bald nach ihm stellt sich eine junge Frau an. Sie mustern sich kurz und blicken dann weg. Er denkt über sie: schüchtern und kunstbeflissen. Neun Uhr vier: Jetzt könnte der Führer endlich kommen … Neun Uhr sieben: Sie schaut wieder zu ihm herüber:

„Warten Sie vielleicht doch auf die Führung?“ – „ Klar. Und wo bleibt der Führer?“ – „Das bin ich ja. Ich hab geglaubt, sie hätten sich hier nur untergestellt.“ Sie lachen beide. Die Busse, sagt sie, kämen erst später und gibt ihm ein Privatissimum. Sie macht es gut, sie hat die Welt der Parler und der Syrlin im Kopf. Ihr Vortrag geht zeitweise in ein Gespräch mit ihm über. Lange verweilen sie im Chor. Er kann sich kaum von den Figuren am Chorgestühl trennen: so viel Psychologie in Eiche! - „Welche der beiden spricht sie mehr an, die lybische oder die delphische Sybille?“ – Er findet ihre Frage eine Spur zu persönlich und antwortet nicht. – „Die beiden Figuren sind, wie anderen Paare am Gestühl, antagonistisch. Hier die weiche lybische, da die viel herbere delphische Sybille. Den Gegensatz finden sie in allem: Haartracht, Kopfbedeckung, Haltung der Hände. Es sagt einiges über den Betrachter, zu wem er sich stärker hingezogen fühlt …“

Er lächelt nur und verrät nicht, dass sein Fall die delphische Sybille ist. Sie führt ihn weiter und er hört, dass das moderne Glasfenster ein Geschenk der Army ist, eine Art Wiedergutmachung. Auch das Münster sei ja von Bomben getroffen worden. Aber was sei das schon gegen den Steinfraß, er habe wohl die Gerüste gesehen. Es sei ein Wettlauf zwischen den Restaurateuren und dem Zerfall und fraglich, ob er auf Dauer zu gewinnen sei. Nach einer knappen Stunde ist die Führung vorbei. Sie wünscht eine angenehme Weiterreise. „Nehmen Sie sich Zeit für Zwiefalten.“

Dann bummelt er eine Weile im Regen. Es müsste hier mehr Arkaden geben. Um nicht zu sehr durchnässt zu werden, geht er ab und zu in die Kaufhäuser. Vom Nazarener und seiner Bande nirgendwo eine Spur. Hat er vielleicht gestern Abend halluziniert? Kann sich dergleichen ereignen an einem Ort, an dem anscheinend nur die Sonderangebote die Menschen bewegen? Wie ernsthaft sie bei der Sache sind: Preise vergleichen, ein Los kaufen, Speisekarten studieren. Keiner blickt den anderen an, keiner will sich von seiner Sache ablenken lassen. Jeder dem anderen nur ein Hindernis, von dem er nicht aufgehalten werden mag. Sie sind nicht unhöflich, aber ihre Höflichkeit ist unpersönlich, eine Art Wagenschmiere, die die Räder schneller rollen lässt. Grobheit, Verletzendes würde Verzögerung, Ablenkung von der zu verfolgenden Sache bedeuten. Die Stadt ist um diese Zeit geschäftig und öde zugleich. Die Kinos laufen noch nicht. Er nimmt Kuchen mit auf sein Zimmer.

Probeweise will er am Nachmittag schon einmal aufs Land und fährt mit dem Bus zu dem aufgelassenen Kloster, wenige Kilometer außerhalb. Die Scheiben sind während der Fahrt ständig beschlagen, er sieht nichts vom Weichbild der Stadt und steht dann unvermittelt im Klosterhof. Die Schaufassade von Kirche und Kloster erschlägt ihn beinahe, selbst in diesem diffusen Grau. Sie ist zugleich urtümlich und überaus raffiniert. Diese Wehrmauern scheinen schon immer dagestanden zu haben und wirken doch so elegant und filigran, als hätte man bis zuletzt an ihnen poliert und ziseliert. Tatsächlich ist das Bild seit zweihundert Jahren unverändert und ist wiederum nur Momentaufnahme. So viele Jahrhunderte hat das Kloster bestanden, doch alles, was Augustin sieht, ist Produkt seiner letzten Jahre. Ein radikales Rokoko hat hinweggefegt, was Jahrhunderten genug war, und durch ein pompöses Bühnenbild ersetzt. Diese konservierte Fassade eines leeren Gehäuses bewahrt für alle Zeit den Geist nur einer einzigen Generation – oder vielmehr drückt sich in der wuchtig abweisenden Schaufront allein die Opposition gegen den Geist vernünftiger Klarheit aus. Gürtet sich so, was sterben muss? Das Martialische ist auf die Spitze getrieben, das scheinbar Uneinnehmbare entpuppt sich als Kulisse und Attrappe. Die kantig verschobenen massigen Türme mit Fenstern wie Schießscharten sind Stümpfe geblieben, als hätten Revolutionstruppen die Baugerüste abgebrochen.

In der Kirche kommt er nicht weit, sie feiern eine Hochzeit. Er bleibt hinter der Glaswand stehen, die einen Windfang vom Schiff abteilt. Er kann die Ausstattung nicht betrachten, nur die auftrumpfenden Kolossalpilaster aus der Ferne. Dann die Bibliothek – elegante Schnitzfiguren bevölkern sie. Sind es die neun Musen, wird gefragt. Nein, erklärt die rüstige Alte, sie verkörpern die Wissenschaften und die Tugenden. Die Führerin schwäbelt stark und macht den Amerikanern in schwäbelndem Englisch klar: Solche barocken Innenräume hat es auch in der Stadt gegeben, vor dem Krieg und vor den Bomben. Man hört ihr mit höflich unbeteiligter Miene zu.

Er betritt erneut die Kirche. Noch immer erfleht der Priester den Segen des Himmels. Augustin, mit den Riten nicht vertraut, will schon endgültig verzichten, da werden sie vorne unruhig, erheben sich, raffen zusammen. Ihren Auszug lässt er sich nicht entgehen. Er bleibt im Windfang, tritt zwei Schritte zur Seite. Da kommen sie schon, da ist das Brautpaar. Wie sieht der Bräutigam denn aus? Mehr als passabel. Schräg hält er seinen hübschen Kopf, damit er gut zur Geltung komme. Geht wie durch ein unsichtbares Spalier und setzt die stattlichen Füße etwas geziert. Wahrscheinlich wird draußen gleich fotografiert und gefilmt, er ist vorbereitet. Halblanges dunkles Haar umrahmt ein rundes, gefälliges Gesicht. Oder sollte man es selbstgefällig nennen? Es ist ein sanftes und kühnes Gesicht, im Ausdruck zugleich mild und arrogant. Der Schnurrbart senkt sich üppig auf den weichen Mund, um sich an den Enden gleich wieder aufzuschwingen – er will einmal Backenbart werden. Der Bräutigam schreitet, dabei lässt er den Blick langsam kreisen, einen materiell interessierten Blick, der alles umfängt: Kirchenschiff, Verwandtschaft, Braut, das bis jetzt nur durch Augustin vertretene Spalier. Denkt er schon an das festliche Mahl? Man stelle ihn sich beim Essen vor: isst und trinkt langsam und viel und schweigt dazu bedeutsam. Nur ruhig bleiben und das stattliche Äußere wirken lassen …

Die Braut? Nun, es heißt ja, Gegensätze zögen sich an, und vielleicht sind kleine, magere, sommersprossige Wesen tatsächlich sein Geschmack. Denkbar ist, dass noch andere Kräfte hier am Werk waren. Irgendein Magnetismus muss seine Wirkung getan haben. Übrigens ist der Bräutigam der Einzige, der befriedigt in die Runde schaut. Die restliche Gesellschaft kennt nur zwei Seelenzustände. Der männliche Teil wirkt bedrückt, der weibliche gerührt, wenn nicht aufgewühlt. Die Brautmutter schluchzt sogar. Warum weint man denn? Vielleicht kommt’s von der Orgelmusik.

Er geht zu Fuß zurück in die Stadt. Durch Auenwälder führt ein Weg den Fluss entlang, der aus den Alpen kommt und in der Nähe in den Hauptstrom mündet. Es treiben die vom Dauerregen angeschwollenen Wassermassen dahin, als hätten sie es eilig, an ein Ende zu gelangen. Auf der Oberfläche des dahinschießenden Wassers schaffen die vielen aufprallenden Tropfen aufgischtend einen Perlenvorhang. Er verbirgt alles, was vielleicht im Fluss mitschwimmt. Die verfilzten Umrisse der Baumriesen am Ufer verschwimmen in der vom Regen übersättigten Luft. Augustin zieht die Kapuze des Regenmantels enger zusammen. Von allen Geräuschen der Außenwelt bleibt nur das Hämmern der Tropfen übrig, einlullendes Stakkato, dem sein eigener kräftig arbeitender Puls einen Singsang unterlegt. Dann reißt der Waldgürtel rechts auf. Weite, vor Feuchtigkeit dampfende Wiesen geben den Blick frei. Doch von der Stadt ist nichts zusehen, nur der Turm des Münsters, scheinbar bloß, wie infolge noch größerer Konsistenz des Wasserdampfs, eine schwärzliche Wolke am grauen Himmel.

Einige Tage später erreicht er Zwiefalten. Von der hohen Kirchenfassade herunter umfasst der heilige Aurelianus mit einer Gebärde voll unendlicher Empfindung das ganze Kloster, das jetzt Irrenanstalt ist. Das Kircheninnere ist sehr farbig. Es ist, als löse sich der Baukörper in dem heftigen Spiel der Farben und Formen auf, wie eine Ästhetik der Verwesung. Der Prophet Ezechiel weist dazu verzückt auf die Kanzel an der gegenüberliegenden Kirchenwand. Der Kanzelfuß stellt ein Gräberfeld am Jüngsten Tag dar, einen vor Fruchtbarkeit überquellenden Gottesacker.

Am neunten Tag seiner Reise sucht er schon mittags ein Zimmer für die Nacht, wieder im Schatten einer barocken Klosterburg. Wie in Zwiefalten hat es auch hier mit dem Fortgang der Mönche Platz gegeben für die Gemütskranken des gewerbfleißigen Landes. Seelisch Gesunde kommen auch und wollen sich erholen, von was auch immer. Wem nichts fehlt, wirft nur einen Blick in die Kirche und einen in die Bibliothek und reist spätestens am nächsten Morgen weiter. Die Kirche ist ein wenig düster, schöner die Bibliothek und berühmt ihr Deckengemälde. Seinetwegen kommen viele Touristen und verrenken sich die Hälse. Die Mitte des Saales ist von weiß lackierten Stühlen blockiert. Auf ihnen sitzen die Patienten, wenn Messe gefeiert wird. Übrigens sind die Bücher alle fort. Hinter den bemalten Schranktüren ist nichts.

Der Park ist für jeden zugänglich. Die Anstaltsgebäude sind zwanglos in ihm verteilt, viele Besucher im Park. Augustin hat eine Bank für sich allein und will Zeitung lesen. Er kommt nicht dazu. Eine ältere Frau zieht es in seine Nähe, sie lässt sich mit muffigem Gruß links von mir nieder. Er rückt ein wenig zur Seite, gerade so viel, dass sie es nicht als Zurückweisung auffassen muss. Er betrachtet sie unauffällig: graues Hauskleid, Knoten im Nacken, derbe Schuhe. Überraschend nun doch beginnt sie ein Gespräch: „Wohnen Sie auch hier?“ - Wie soll er das verstehen? „Ja, aber nur für eine Nacht, im Gasthof. Und Sie?“ – Es stellt sich heraus, dass sie gewöhnlich in einem Tübinger Altersheim lebt. Man habe sie hierher verschickt, zur Erholung. Nach vier Wochen dürfe sie heim nach Tübingen, ganz bestimmt. „Sind Sie ein Lehrer?“ fragt sie dann. Er muss verneinen. Sie wiederholt trotzdem: „Ein Lehrer … Sie müssen ein guter Mensch sein.“ Er macht eine abwehrende Geste und kommt sich unsauber vor, in ihm ein Bedürfnis nach Seife und Händewaschen.

Auf einmal nimmt auf seiner anderen Seite noch eine Dame Platz, eine Vierzigerin, adrett gekleidet und noch ziemlich rosig. Sie jedenfalls ist ohne Zweifel Touristin. Die beiden Sybillen beginnen sich zu mustern, die linke tut es feindselig, die rechte zurückhaltend. Da steht die Ältere wortlos auf und geht zu einer anderen Bank. Von dort aus beobachtet sie den Fortgang der Ereignisse.

„Verzeihen Sie, dass ich gerade hier Platz genommen habe“ - er rückt fast unmerklich ein wenig nach links -, „aber ich sehe Sie hier zum ersten Mal. Wohnen Sie jetzt auch hier?“ Missverständnisse scheinen hier in der Luft zu liegen. Sie stellen beide alles richtig. Sie sagt ihm, sie mache nie ein Geheimnis daraus, wenn sie zum Beispiel draußen im Gasthof oder auf einer Veranstaltung einen Fremden kennenlerne. Man erfahre es ja doch … Seit vierzehn Jahren lebe sie schon hier unter den mehr als tausend Patienten, vor vierzehn Jahren sei sie aus Göppingen hierhergebracht worden. In Göppingen lebe noch immer ihre Schwester, die sich gar nicht für sie interessiere. Vor drei Jahren sei sie zuletzt auf Besuch gekommen und sie sei so kalt gewesen … „Es geht mir nicht schlecht, nur eine richtige Arbeit fehlt mir. Ich würde so gern arbeiten … Manchmal habe ich ja diese Anfälle, zuerst ist es ein leichter Schwindel, dann ein richtiger Rausch. Und später erscheint mir die Jungfrau Maria … Die Schwester Oberin sorgt dann dafür, dass ich allein in einem besonderen Raum bleibe, und die Schwester Oberin hat auch ein Mittel, eine Spritze, dann bin ich bald wieder ganz normal, wie jetzt … Nur selten dauert es länger an, dabei ist mir auch unser Herr Jesus schon erschienen. Ich habe mich vor ihn hingekniet, er hat mir die Hand mit dem Ring gereicht, ich habe den Ring geküsst …“

Sie ist lebhaft geworden und kommt ihm allmählich näher. Er seinerseits rückt langsam nach links und hat schon fast das Ende der Bank erreicht, da winkt sie einem Herrn in ihrem Alter auf einer weiter entfernten Bank zu. „Es ist mein Bekannter. Er hat schon ein paar Mal zu uns herübergesehen. Aber er ist zu schüchtern, um zu uns zu kommen. Ich will jetzt lieber zu ihm gehen und verabschiede mich daher von ihnen. Vielen Dank, dass Sie Zeit hatten für unser Gespräch. Leben Sie wohl …“


Einstell-Datum: 2013-10-18

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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