Otmar Heusch
Mitglied
 62 Forenbeiträge seit dem 08.11.2003

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| Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 01.09.2025 um 11:52 Uhr |
Nur eine Armlänge entfernt …
Der Sommer hat es wieder mal über die Hügel geschafft – es ist heiß – sehr heiß. Die sonst ins Auge fallenden aufrechten Blumen in ihrem strahlenden Blütenkleid kämpfen gegen den Sonnenbrand und betrüben ihre Betrachter.
Man könnte die Lust verlieren zu denken – geschweige denn körperlich aktiv zu sein. Doch die Geschwister Charlotte, Leonard, Laurenz und Mattis stört das alles nicht, sie haben sich entschieden: „Wir fahren ins Freibad“.
Charlotte ist neunzehn Jahre alt, sehr zielstrebig und weltoffen. Leonard ist siebzehn Jahre alt, hat klare Vorstellungen und einen Fabel für Fußball. Laurenz ist zwölf Jahre alt, ruht in sich selbst, gebettet in Intelligenz und Gemüt. Das Küken Mattis ist vier Jahre alt und noch auf der Suche nach interessanten Abenteuern.
Das Freibad ist nur ein paar Kilometer von zu Hause entfernt. Ab auf die Fahrräder und dann in das kühle Nass. Von Weitem hört man schon das laute Gegröle aus dem Freibad – mit einer durchdringenden Klangfarbe - es scheint voll zu sein.
Die Vier stellen sich geduldig in die Warteschlange und erreichen nach einer gefühlten Stunde eine kleine Ecke auf der ausgetrockneten Wiese.
Charlotte sorgt für ausgebreitete Handtücher, während Leonard und Laurenz zielstrebig das Wasserbecken aufsuchen. Mattis setzt sich an den Rand der Handtücher und beginnt mit dem Aufblasen seiner Schwimmreifen. Für ihn ist das ein anstrengender und zeitintensiver Vorgang, aber er ist sehr ehrgeizig.
„Hey „Süßmo“*, können wir uns zu dir setzten?“, schallt es hinter Charlottes Rücken.
Charlotte dreht sich selbstbewusst und reaktionsfähig im Zeitlupentempo um.
Zwei Jungs in Leonards und einer in Charlottes Alter stehen vor ihr.
„Wir haben heute den „Tag der offenen Handtücher“, also ihr könnt euch zu uns setzen“ – und ich heiße nicht „Süßmo“, sondern Charlotte.“
(Charlotte wird im Bekanntenkreis auch „Charly“ genannt)
„Ich heiße Ludwig - und das sind Sam und Ali“.
„Ganz schön voll hier, ich würde am liebsten ein Drittel nach Hause schicken“, sagt Ludwig.
„Es hat doch auch etwas Gemütliches und im Übrigen hat doch jeder das Recht hier zu sein“, antwortet Charlotte.
Ali antwortet mit einem „Side eye“* und einem „Papperlapapp“.
Charlotte flüstert: „Goofy“*.
„Was macht ihr so in eurer Freizeit?“, fragt Charlotte.
Sam antwortet spontan, mit in Stolz gebetteter Stimme: „Ich spiele Fußball in der U17 – und das erfolgreich“.
Ludwig meckert wieder: „Wenn ich mir die Leute hier anschaue, dann sind mindestens ein Drittel Ausländer im Freibad“.
„Die gehen mir so langsam auf den Geist“.
„Hast du dich mit dem Begriff – Ausländer – schon mal informativ auseinandergesetzt?“, fragt Charlotte.
„Was hast du gegen Ausländer, Migranten, Flüchtlinge, Zu-wanderer oder Einwanderer?“
„Es sind Fachkräfte darunter, wie zum Beispiel Ärzte, Krankenhaus- und Pflegepersonal und vieles mehr, die uns fehlen würden“.
„Ich denke wir sollten unterscheiden zwischen guten und schlechten Menschen und nicht nach Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung“.
„Sonst könnte die humanitäre Wertschätzung verderben, bis hin zum Gesellschaftsmüll.“
„Lehnst du den Notarzt ab, wenn es dir besonders schlecht geht – nur weil er eine andere Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung hat?“
„Versuche mal realistisch in die Welt zu blicken und nicht verworren fremd gesteuert.“
„Charlotte, du mit deiner einflößenden Allwissenheit, mit einem Anteil übertriebener Gründlichkeit“, erwidert Ludwig.
Solche Aussagen gehen an der entspannten Charlotte vorbei – und zerplatzen als Wortblase weit im Seitenaus.
„Doch, die müssen alle raus aus unserem Land“, stottert Ludwig weiter.
„Auch dein Freund Ali?“, fragt Charlotte.
„Ali hat einen deutschen Pass, der hat das Recht hier zu bleiben“, grollt Ludwig.
„Siehst du, du wirfst alles durcheinander. Da Ali einen deutschen Pass hat, ist er kein Ausländer. Wie schon gesagt: Mach dich mal schlau!“
Sam und Ali enthalten sich – zu Boden starrend – der Diskussion.
Leonard kommt dazu und legt sich triefend nass auf die Handtücher.
„Hey, wer bist du denn?“, fragt Ali - sehr bestimmend.
„Ich bin der Bruder – und zeigt auf Charlotte – und heiße Leonard.“
Ludwig ergreift sofort wieder das Wort: „Leonard, du bist doch sicherlich unserer Meinung, dass wir zu viele Ausländer, oder so ähnlich, in unserem Land haben?“.
„Ich habe Freunde, die nicht in Deutschland geboren sind, auf die ich mich verlassen kann und die ich nicht missen möchte.“
„Ich kenne auch welche, die ich nicht vermissen würde“, antwortet Leonard.
„Im Grunde ist mir die Herkunft egal – Hauptsache ist die vorhandene Achtung voreinander – gebettet in Wertschätzung und Toleranz.“
„Du schwafelst wie deine Schwester – Blödsinn“, poltert Ludwig.
Charlotte stellt sich fast Nase an Nase an Ludwig heran und spricht expressis verbis mit einprägender Stimme:
„Wenn viele Menschen so denken würden wie du, Ludwig, dann gäbe es vielleicht bald keinen Frieden mehr auf der Welt - und Kriege wüten schon in unerträglicher Wirklichkeit – möchtest du das?“
„Stell dir doch einmal vor, alle Menschen würden sich freundlich, mit Achtung und Wertschätzung die Hand reichen, dann könnten wir sagen: Der Weltfrieden war nur eine Armlänge entfernt.“
Ali und Sam blicken entschlossen zu Ludwig – „über das, was Charlotte gesagt hat, sollten wir nachdenken.“
Charlotte überrascht die Drei, mit vertraulicher Stimme: „Wenn ihr wollt, dürft ihr mich Charly nennen“ und reicht jedem freundlich ihre Hand.
* Worterklärungen:
Süßmo = süße Person, Kosename
Side eye = Skepsis oder Misstrauen
goofy = tollpatschig, alberne Person
Ich träume wiederholt vom Weltfrieden. Manchmal denke ich, er ist nur eine Armlänge entfernt.
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