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Literaturforum: Das Beste wäre, nie geboren sein


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Forum > Philosophie > Das Beste wäre, nie geboren sein
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 Thema: Das Beste wäre, nie geboren sein
Kenon
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 04.06.2021 um 23:08 Uhr

Radikaler Existenzskeptizismus oder Anti-Natalismus ist eine Gedankenbewegung – Philosophie scheint mir für das, was ich nachfolgend anrissweise betrachten möchte, zu viel gesagt, obwohl es auch eine entsprechende Philosophie gibt –, welche das Geborenwordensein oder Gebären infrage stellt. Es ist eine ungeheuerliche Infragestellung, da sie die Grundfeste unseres Existenzverständnisses anzweifelt: Sollten wir uns besser nicht mehr fortpflanzen, da die Geburt erste Ursache aller menschlichen Leiden ist? Ich möchte mich hier aber gar nicht wertend dazu positionieren und sehe diese Gedanken nur als Möglichkeit, die sich längst aktualisiert haben, da sie mir über viele Jahre immer wieder in der Literatur aus den verschiedensten geschichtlichen Epochen begegnet sind. Dieser krasse Existenzskeptizismus hat mir – so viel Positionierung sei dann doch gewagt – früher tatsächlich manchmal Trost spenden können. Neuerlich angeregt, darüber nachzudenken, hat mich Wolfgang Schadewaldt, der in einer seiner Tübinger Vorlesungen den fiktiven Wettstreit zwischen Hesiod und Homer zitiert, in welchem Homer die folgenden Worte spricht:

Zitat:

Nimmer geboren sein, wär sämtlichen Menschen das Beste!
Einmal geboren jedoch, alsbald zum Hades zu fahren!

Ein schauerliches wie wirkungsmächtiges Motiv, das im Lauf der Jahrhunderte immer wieder aufgenommen wird, sicherlich häufig als bewusste Abwandlung.

Etwa zur gleichen Zeit, auf welche man den Dichterwettstreit datiert, schreibt Sophokles in “Ödipus auf Kolonos”:

Zitat:

Nicht geboren zu werden übertrifft jedes Wort. Aber, wenn einer ins Licht
getreten, zu gehen dorthin, woher er kam, aufs schnellste, das nächstbeste ist es bei weitem.

Inhaltlich sind beide Zitate fast identisch, der literarische Homer macht im Dichterwettstreit die Fahrt in die Nachwelt als nächstbestes aus, Sophokles die Rückkehr zu jenem Ort, aus dem man in die Welt gefallen ist: die Vorwelt.

Möglicherweise greifen beide Textstellen auf Theognis von Megara (etwa zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts v.u.Z.) zurück:

Zitat:

Gar nicht geboren zu werden, das wäre für Menschen das Beste, nimmer des Sonnengotts sengende Strahlen zu schauen; ist man aber geboren, so schnell, wie es geht, in des Hades Pforten zu dringen und dort unter der Erde zu ruhn.

Bei Heinrich Heine heisst es dann viel später formvollendet und ergreifend in dem nachgelesenen Gedicht “Morphine”, man spürt in den Worten seine Leiden:

Zitat:

Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser - freilich
Das Beste wäre, nie geboren sein

Wieder ein wenig später nimmt Friedrich Nietzsche in “Die Geburt der Tragödie” (1872) den Gedanken auf und formt ihn wie folgt:

Zitat:

Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.

Es gibt sicherlich noch weitere Beispiele, bei William Blake, Percy Bysshe Shelley oder Shakespeare, von Thomas Bernhard ganz zu schweigen. Ich wünschte fast, ich könnte mich berufsmäßig damit beschäftigen, um es ausführlicher und genauer darzustellen!

Ein – hier sei ein Sprung in die neuzeitlichen sozialen Medien erlaubt – jüngeres Beispiel auf Twitter geht ungefähr wie folgt, da es mir entfleucht ist, kann ich es nur sinngemäß und ohne Urheber, der ohnehin per Pseudonym unterwegs war, wiedergeben:

Zitat:

Mein Beitrag zu einer besseren Welt ist, keine Kinder zu haben. Das ist dann auch schon alles.

Und trotzdem – was gibt es schöneres, als Kinder zu haben – und zu leben?!
Und wenn man keine Kinder haben kann oder mag: als Pflanzen zu pflanzen?

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ArnoAbendschoen
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 05.06.2021 um 17:38 Uhr

Diese Zitate wie z.B. das von Heine haben etwas von Bilanzierung. Es werden Aktiva und Passiva individuellen oder schlechthin menschlichen Lebens gegeneinander aufgerechnet und das Ergebnis ist tiefrot. Selbst wenn also menschliche Existenz immer nur tragisch sein könnte, wovon ich nicht überzeugt bin, so wäre das doch nur eine Aussage über die Menschenwelt, keine über Zusammenhänge, die über sie hinausreichen. Vielleicht sieht die Bilanz z.B. aus der Perspektive von Pflanzen, die von Menschen gepflanzt werden, anders aus. Und sollte das nicht Rückwirkungen auf das Selbstverständnis von Menschen haben? Die Einseitigkeit, die sich in diesen Zitaten ausdrückt, besteht in ihrer Selbstbeschränkung auf rein menschliches, individuelles Schicksal. Sie ist so losgelöst von Gesamtzusammenhängen, für die es das altmodische Wort Schöpfung gibt.

Was Heine angeht, so ist das Zitat wohl aus seiner letzten Lebensphase ("Matratzengruft") und scheint mir eher für eine reaktive Verstimmung zu sprechen.

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Kenon
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 05.06.2021 um 22:06 Uhr

Man muss sich sicherlich die Kontexte anschauen, in denen die oben genannten sinnverwandten Zitate stehen, um sich einen besseren Reim darauf machen zu können. Beim Dichterwettstreit zwischen Hesiod und Homer ist ja durchaus noch Spaß im Spiel, da will der eine den anderen übertreffen und vielleicht auch verblüffen, denn die Frage, die Hesiod stellt, lautet ja “Was wär den Menschen das Beste?”. Als Antwort würde man erwarten, dass sie reich, schön, gesund, klug, gerecht und dergleichen seien – aber Homer antwortet ganz anders: Schau her, Hesiod, damit hast Du sicherlich nicht gerechnet. Was man sich doch alles ausdenken und zur Sprache bringen kann!

Bei Heinrich Heine bildet wie von Dir benannt die “Matratzengruft” den biographischen Hintergrund. “Morphine” ist kein Spaß, auch wenn ähnliches darin geäußert wird.

Die existenzskeptischen Gedanken sind ja keine besonders abwegigen und mussten zwangsläufig irgendwann einmal das erste Mal gedacht und ausgesprochen werden, so wie irgendwann ein Bus an einer Haltestelle vorbeikommt oder Grönland vom Menschen aufgrund seiner Umtriebigkeit entdeckt werden musste.

Vielleicht entstand die Denkfigur ja in etwa so:

Warum leide ich? Weil ich lebe.
Warum lebe ich? Weil ich geboren worden bin und noch lebe.
Wäre ich tot, würde ich nicht mehr leiden, aber zu sterben heisst vielleicht auch zu leiden.
Da wäre es doch bestimmt besser, gar nicht erst geboren worden zu sein?
Ja, das scheint mir mithin das beste von allem zu sein.
Das beste jedoch ist nicht erreichbar, weil ich bereits lebe.
Also wäre das zweitbeste, nämlich alsbald zu sterben, das beste noch mögliche?

Pflanzen haben es da vermutlich einfacher, weil sie – so nehme ich an – keine so starke Gefühlswelt haben und sich auch nicht mit Gedanken plagen können.
Der Mensch kann leiden – aber, was schlimmer ist, auch leiden lassen.

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Kenon
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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 23.06.2021 um 00:41 Uhr

Das Thema ist nicht annähernd vollständig skizziert, wenn nicht auch E.M. Cioran zu Wort gekommen ist:

Zitat:

Nicht geboren werden ist unbestreitbar die beste Lage. Leider steht sie niemandem zu Gebot.

(Aus "Vom Nachteil, geboren zu sein")

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Kenon
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4. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.08.2021 um 08:48 Uhr

“Kohelet” steht wie ein leuchtender Fremdkörper in der Bibel, und auch hier finden wir ein Nachdenken über und Schätzen des Nichtgeborenseins:

Zitat:

Da pries ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben haben. Und besser daran als beide ist, wer noch nicht geboren ist und des Bösen nicht innewird, das unter der Sonne geschieht.

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ArnoAbendschoen
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5. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 18.09.2021 um 21:12 Uhr

Ich weiß auch noch ein passendes ZItat, diesmal aus Dostojewskis "Der Idiot". Dort sagt die Nebenfigur Ippolit:

"Wenn ich die Macht gehabt hätte, meiner eigenen Geburt zuvorzukommen, hätte ich bestimmt niemals meine Zustimmung dazu gegeben, die Existenz unter so lächerlichen Bedingungen anzunehmen. Immerhin habe ich aber die Macht, meine Existenz zu beenden."

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