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Literaturforum: irgendwie feige


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Forum > Sonstiges > irgendwie feige
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 Thema: irgendwie feige
JH
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10. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 04.06.2008 um 13:52 Uhr

Zitat:

Zitat:

Leider bewegt das belletristische Wort gesellschaftlich nur wenig.

Hat es das je? - Ich fürchte Künstler erschrecken heute nur noch konzeptionell.

Ziemlich gute Antwort. Ich glaube, Lem schrieb in seinem Buch "Die vollkommene Leere", das der Rückblick auf die Kunst des 20. Jahrhunderts ein Blick auf eine Epoche aus Konzepten und Anfängen sei, aber nichts zu Ende gedachtes.


MASSONI
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1943Karl
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11. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 06.06.2008 um 18:14 Uhr

Lieber Matze,
danke für deine langen Ausführungen. Ich fürchte auch, der Literaturbetrieb dient vor allem (und immer mehr) dem Geschäft. Der Literatur dient er nur noch begrenzt, wenn ein Bestseller (zufällig?) noch literarischen Charakter hat .
Dennoch glaube ich an die Wirkungen von Literatur, weil ich immer wieder einmal genau das Buch finde, das mich in meiner persönlichen Entwicklung weiterbringt, indem es mir neue Sichtweisen eröffnet.
Herzliche Grüße
Karl


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Matze
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12. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 06.06.2008 um 20:38 Uhr

Zitat:

Ich fürchte auch, der Literaturbetrieb dient vor allem (und immer mehr) dem Geschäft.

„I love this book“, würde Oprah Heidenreich sagen. Früher wollte man wissen, was öffentliche Figuren denken und warum sie handeln, neuerdings will man wissen, was Personen der relativen Zeitgeschichte fühlen. Diese Kritikerinnen begnügen sich mit dem Gestus des Zeigens, ein Zeigender zu sein, der es dem Literaturliebhaber selbst überläßt, zu urteilen. Jeder Literaturkritiker hat seine starken und seine schwachen Seiten. Die Analyse eines Romans oder eines Erzählungsbandes gehört nicht zu den starken Seiten von Oprah Heidenreichs Begabung. Damit mag es zusammenhängen, dass sie der Analyse literarischer Texte in der Regel nur wenig Zeit widmet, sie bisweilen einfach ignoriert. Wer erfahren möchte, warum ein literarisches Werk künstlerisch beachtlich ist, kommt bei ihr nicht auf seine Rechnung: Sie sagt, vor ihr liege ein aufregendes oder amüsantes oder geistreiches oder überflüssiges Buch. Aber sie lässt sich auf die Begründung ihrer Urteile in der Regel nur kurz ein - oder überhaupt nicht. Diese "Latte–Macchiato–Publizistik" produziert nur kalten Kaffee. Es ist ein Siegeszug des Sekundären in Form einer feuilletonistischen Aufbereitung, die sich Kritik nennt zu konstatieren. Die Kultur oder das, was gemeinhin kreativ schafft, soll sich der eigenen Verwertbarkeit entsinnen; die Wirtschaft oder das, was sich rechnet, produziert aus sich heraus noch keinen ästhetischen, sinnlich erfahrbaren, mithin kulturellen Mehrwert. An zwei eher gefühlsmäßig defizitären Enden also sollen sich die beiden Seiten treffen zu ihrer beider Wohl, und daß das ausgerechnet auf einer Buchmesse deutlich wird, paßt. Inzwischen sind die Grenzen des ‚kritischen Bewußtseins’ klar geworden. Auf der Buchmesse trifft man aus Autoren, die sich aus vier Arten zusammensetzten: aus Journalisten, die einem Prominenten die Feder gehalten hätten, aus Köchen mit neuen Grillrezepten, aus den unvermeidlichen Lifestyle–Beratern und nicht zuletzt aus Krimiautoren. Aber wo sind die Schriftsteller?

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Der_Geist
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13. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 06.06.2008 um 20:43 Uhr

Zitat:

Aber wo sind die Schriftsteller?

Sie saufen, schreiben Poeme, die keiner versteht, und tun sich selber leid.

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Matze
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14. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 06.06.2008 um 22:24 Uhr

Zitat:

[Sie saufen, schreiben Poeme, die keiner versteht, und tun sich selber leid.

Das wage ich doch sehr zu bezweifeln. Im Literatur–Betrieb geht es darum, daß einige vermeintlich kluge Menschen sich auf einen Text einigen, wie beispielsweise bei der so genannten Gruppe 47, die Kritik als „linke Reichsschrifttumskammer“ monopolisiert hat. Daß der dann große Literatur und die anderen Texte schlechte Literatur seien, folgt daraus nicht. Die Gruppenbildung unter Künstlern und Schriftstellern bedarf eines tertium comparationis außerhalb des Ästhetischen. Wer immer sich zusammenschließt, der muß in einem bestimmten Grade von seiner künstlerischen Individualität absehen und etwas tendenziell Außerkünstlerisches zum Gemeinsamen der Gruppenmitglieder und zum Ziel der Gruppenarbeit machen. Und dieses tertium war bei den meisten literarischen Gruppierungen der Vergangenheit ein Politikum. Hans Werner Richter, Feldwebel der deutschen Literatur, hatte bei den Tagungen immer unruhige Augen, die misstrauisch hin- und herscharwenzelten, wie die eines Caesars unter Verschwörern, den Brutus suchend. Die Gruppe 47 schlug die Bresche, durch die eine bis dahin unmündige, sprachlose, vom literarischen Leben ausgeschlossene Schicht in die deutsche Kultur einbrach. Ihre Mitglieder brachten die Erfahrung von Familien mit, die jahrhundertelang von der herrschenden Schicht gedemütigt worden waren. Diese Kulturevolution hob jenes Kleinbürgertum in den Sattel, das bis zum Ende der BRD das repräsentative soziale Milieu dieses Landes geblieben ist. Auch im neuen Deutschland bringen GraSS, Walser und Konsorten ihre Ressentiments gegen die da oben hervor, dazu Bildungsfeindlichkeit und einen anti-elitären Affekt. Diese können aber inzwischen nicht mehr als verständliche Reaktion auf ungerechte Behandlung begriffen werden. Diese Haltung hat sich im Gegenteil im Lauf der Jahrzehnte verwandelt in die pure Heuchelei. Das geistig-politische Kleinbürgertum muß sich nicht mehr vor Schlägen ducken. Es ist hegemonial. Insofern ist auch das ganze habituelle und verbale Vokabular von Rebellentum obsolet und zutiefst unwahr, mit dem das kulturelle juste milieu insgesamt sich immer noch gegen einen Feind aufbäumt, der längst das Schlachtfeld geräumt hat. Die Menage à trois aus Kunst, Politik und Utopie ist Geschichte.

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1943Karl
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15. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 07.06.2008 um 18:13 Uhr

Lieber Matze,
in Großen und Ganzen teile ich deinen Literatur-(Kultur-)Pessimismus. Zum Glück aber gibt es neben dem üblichen Literaturbetrieb immer noch einige erfreuliche Ausnahmen. Ansonsten könnte wie z.B. diese Diskussion gar nicht führen.
Lieber Der_Geist,
du bedienst mit deinem Satz ein uraltes Vorurteil. Ich kenne jedenfalls einige (auch bekannte und noch lebende) Autoren, die weder saufen noch jammern.
Herzliche Grüße euch Beiden
Karl


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Matze
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16. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 07.06.2008 um 19:05 Uhr

Zitat:

Ansonsten könnte wie z.B. diese Diskussion gar nicht führen.

Sehr angenehm, übrigens. Löst man sich vom Themendiktat der aktuellen Bestseller, kann es aufregend werden. Für mich ist das Aufregende am ehesten im Netz zu finden, dort, wo ich mich mit Künstler wie Peter Meilchen, Tom Täger, Heimo Hieronymus, Holger Benkel, Francisca Ricinsci, A.J. Weigoni und vielen mehr beschäftige. Nicht im Sinne eines Geheimwissens, das mich gegenüber anderen, nicht eingeweihten Kritikern auszeichnete, sondern weil die Literatur für mich ein privilegierter Ort der Fremderfahrung ist. Lesen und Unvertrautes zu erfahren, gehört für mich untrennbar zusammen. In Büchern, vervielfältigen sich die Genüsse und Erkenntnismöglichkeiten. Mag die Verwandtschaft von Literatur und Reisen ein wenig überstrapaziert sein, mag man sich, sobald man sie anführt, in den zu großen Fußspuren Jahnns zu bewegen, wirksam und aufschlußreich ist diese Analogie dennoch, insofern beides, die Literatur wie die Reise, Unvorhergesehenes mit sich bringt, insofern beides überfordert, die Sinne anregt und anstrengt, vielleicht überanstrengt, aber zugleich Neugier entfacht, das Denken und die Wahrnehmung herausfordert. Der Schriftsteller von heute ist Kleinunternehmer, die erfolgreicheren können sich schon als Mittelständler fühlen. Und so verhalten sie sich auch. Sie haben sich von Politik und Gesellschaft abgewandt. Nichts wagen, nicht anecken, immer schön dem Zeitgeist nacheifern, die Gunst des Publikums bedienen, egal wie regressiv, wie reaktionär. Prämiert wird, was wohlfeil ankommt. Das alles hat fatale Konsequenzen für die gesellschaftliche Entwicklung und den kritischen Diskurs, ohne den eine demokratische Gesellschaft nicht auskommt. Intellektuelle Debatten werden inzwischen von so genannten Experten dominiert, am liebsten im Fernsehformat. Sie erreichen meistens nur mittleres Talkshowniveau. Die intellektuelle Auseinandersetzung beginnt jedoch dort, wo der Zweifel beginnt - die dubitative bzw. kausale Frage. Anläßlich der Feierlichkeiten zu Walter Benjamins 100. Geburtstag unterschied Jürgen Habermas 1972 in einem berühmten Vortrag zwischen "bewußt machender" und "rettender Kritik", was viel Aufsehen erregte, aber keine Folgen hatte. Auf Französisch bedeutet „vision“ sinnliche visuelle Wahrnehmung wie auch innerliche oder transzendentale Bilderfahrung. „Wenn unsere Seele sich lange geübt hat, über Vollkommenheit und Unvollkommenheit der Dinge zu urteilen, so ist der Geschmack da“, schreibt Herder in seinen »Kritischen Wäldern«.

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1943Karl
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17. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 07.06.2008 um 20:02 Uhr

Lieber Matze,
deinen vorangehenden Ausführungen kann ich mich nur voll und ganz anschließen.
Du sprichst mir aus Herz, Kopf und Seele gleichzeitig.
Bevor mich allerdings die eigenen Jubelstürme umwehen, schließe ich lieber mit besonders herzlichen Grüßen
Karl


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Matze
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18. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 08.06.2008 um 08:58 Uhr

Dann machen wir mal den Test, ob Du dem auch zustimmen kannst: Die heutigen Autoren schreiben nur noch für kommerziell motivierte Lektoren, sie schreiben halbfertige Romane und fragen dann diese Allmächtigen, wie sie weiterfahren oder was sie ändern solle. Wer das Geschäft über das Material stellt, erwirkt schließlich den Tod der Henne, die ihm die goldenen Eier legt. Jedoch wie man sie produziert. Am Beispiel des Prix Goncourt ist belegbar, wie manipuliert wird. Zur Goncourt- und Renaudot-Vergabe erschienen in 2006 zwei Tagebuch-Bände des Literaten und ehemaligen Jurors Jacques Brenner. „Aus der Preisküche“ (La cuisine des Prix, 1980 bis 1993) heißt einer der Bände, der auf über siebenhundert Seiten mit ungewohnter Detailgenauigkeit erzählt, wie es in den Jurys zugeht. Die Publikation von Jacques Brenners „Journal“ ist ein Ereignis - nicht wegen der Bedeutung des Autors, sondern wegen seiner Beispielhaftigkeit dafür, wie Literatur gemacht wird. Der vor fünf Jahren verstorbene Brenner, mit wirklichem Namen Jacques Meynard, war zeitlebens Verlagslektor, hauptsächlich bei Grasset, Literaturkritiker bei wechselnden Medien, Roman- und Sachbuchautor und seit 1986 Mitglied der Renaudot-Jury: ein Modellfall also, wie man in Paris Rollen kumuliert. „Willst du den Großen Literaturpreis der Académie Française oder lieber eine Dienstwohnung ebendieser Akademie?“ - fragt ihn sein Chef bei Grasset: Er könne beides erwirken. Daß die Literaturpreise oft mehr an einen Verlag als an einen Autor gehen, dafür sorgen die vier Dutzend meist auf Lebenszeit als Jurymitglieder ernannten Schriftsteller in den Preiskomitees Goncourt, Renaudot, Médicis, Femina, Interallié. Im ersten Wahlgang stimmen Sie für Ihr Lieblingsbuch, in den folgenden für Ihren Verlag! - lautete die Anweisung des Grasset-Lektoratschefs Yves Berger. Um sich beim Schriftsteller Alain Robbe-Grillet für sein Votum als Médicis-Preisrichter zugunsten des Grasset-Autors Bernard-Henri Lévy zu bedanken, publizierte man 1985 einen „schlechten“ - so Brenners Einschätzung - Erotik-Roman von Robbe-Grillets Frau. Zwei Jahre später notiert der Tagebuchautor nach der Vergabe des Goncourt-Preises an Tahar Ben Jelloun für „Die Nacht der Unschuld“ (Seuil): Die Gegenlobby suchte Guy Hocquenghem durchzudrücken, bis der Schriftsteller Daniel Boulanger auf Ben Jelloun umschwenkte und ausrief: „Er ist Marokkaner, ich stimme für die Frankophonie.“ Namentlich wiedergegebene Stimmvoten und genau bezifferte Zahlungsbeträge an Autoren für geleistete Dienste oder versprochene Manuskripte verrät dieses Tagebuch. Nur notwendige Literatur ist grosse Literatur. Nur das, was ohne alle Rücksicht geschrieben werden muss, schreibt sich ein in den Lauf der Geschichte. Natürlich steht dem die heilige Kunstautonomie entgegen. „L´art pour l´art“ aber gilt entweder ganz oder gar nicht: Kunst als Solipsismus oder Instrument, Ars meditativa oder Ars militans. Genau da, wo Gefahr ist, wächst bekanntlich das Rettende auch. Aus den dunkelsten Epochen leuchten uns die überragendsten Dichtungen entgegen; im Finstern wohnen die Adler. Nichts spricht gegen die historische Einkleidung des Gedankens, aber gefährlich aktuell muss er sein, dieser Gedanke, soll kein Stillleben entstehen. Es ist darüber hinaus nicht sicher, ob jeder Rezensent schon ein Kritiker ist, oder ob aus der Rezension nicht erst dann Kritik wird, wenn sie an Zeittendenzen mitschreibt, ihnen womöglich zum Durchbruch verhilft oder sie wortreich verdammt. Die Literaturkritik ist an einem kritischen Punkt, da hilft die sicherlich sehr richtige Proklamation wenig, daß es doch genug zu kritisieren gäbe. Wer die Literaturkritik renovieren will, muß zunächst begreifen, daß der Verlust des utopischen Zeitempfindens auch den Status von Kritik nicht unbeschädigt läßt. Helfen können Kritiker, wenn er seinen merkwürdigen Beruf als begabter Leser erlangt hat. Aber so ist das oftmals nicht. Der Kritiker ist an seinem eigenen, künstlich hochgezüchteten Raum orientiert. Seine Professionalität ist eine Mimikry an Kennerschaft. Nicht nur, daß der Kritiker keine Kriterien hat (was für neue, also echte Literatur normal ist), er ist auch noch daran interessiert, daß es keine gibt, damit er sie selbst festlegen und als seine Prärogative behandeln kann. Helfen könnte auch der Verleger, der Kritiken in Auftrag gibt, aber er ist zu sehr an Gewinn interessiert und nicht an Mitwirkung. Es steht schlecht um die Literaturkritik, wenn die Literatur schlecht ist. Für den Literaturkritiker ist das Schlechte immer auch eine Chance. Diese Maxime auf die Literaturkritik selbst angewendet, heißt natürlich, daß sie immer neu beginnen muß. Nichts ist so konformistisch und öde wie die Zitate aus der amerikanischen Popkultur, mit der die deutsche Literatur seit Jahren gespickt wird. Bei dieser Art von, nennen wir es Literatur suche ich nach Sprache, und finde nur wasserdichtes Vermeidungssprechen. Dies ist ein eher soziologisch als literarisches Phänomen, da ich mit Poetry–Spam nichts anfangen kann. Dieses Rotzlöffeltum wirkt wie eine nihilistische Paraphrase eines billigen Fünfziger-Hits, „The Beat Generation“. Diese Autoren suchen, wie auch beispielsweise auch Patti Smith, nach einer Kontinuität in vorangegangenen Gegenkulturen und entwerfen mit dem so genannten „Social Beat“ eine Verschärfung der von Beatniks und Bohemiens vorgekauten Thesen. Bei wirklich spannender Literatur ist solcher Trost durch Geschichte jedoch nicht zu haben. Nicht aus der Hölle, einem vertrauten Platz abendländischer Dramen und Kulturkämpfe, sprechen wirklich gute Schriftsteller, sondern aus der absoluten Häßlichkeit der Ware. Von dort gibt es keine Rettung. Auch über die Schreiberlinge, die in Hildesheim oder Leipzig ausgebildet werden läßt sich sagen, daß sie noch nie auf einem breiten Niveau so gut schreiben konnten wie heute, aber so wenig mitzuteilen haben wie nie zuvor. Diese oberflächliche Zeitgenossenschaft hat mit Interpretation und mit Stellungnahme zu einer ohnedies kaum mehr bekannten Tradition nichts zu tun. Es geht es in diesen Berichten weniger um das Literarische an sich – und vielmehr um die Möglichkeit der Identifikation. Diese Art von Texten sind zu abgetrennt vom Leben, auf der anderen Seite wirkt das, was zum Kulturleben so landläufig dazugerechnet wird, wie Versatzstücke, mit denen beliebig gehandelt wird, weil jeder angeblich Kunst machen kann. Und: Nicht jeder kann ein Künstler sein. Die Epigonen in unserer Gegenwartsliteratur sterben nicht aus, nein, sie vermehren sich unablässig. Sie reüssieren auf dem literarischen Markt mit Texten, die schnell erfassbare Oberflächenreize haben, demonstrativ ihre eigene Machart signalisieren und sich bei Literatur–Wettbewerben gut in kleinen Portionen vorlesen laßen. Diese déformation professionelle droht jedem Autor, der sich den autistischen Kommunikationsformen des Literaturbetriebs überläßt. Dann entsteht der Typus des außenorientierten Schriftstellers, der zwar die Kodizes der eigenen Zunft sehr genau kennt, aber über den Tellerrand des Gewerbes nicht mehr hinauszublicken vermag. Früh bahnt der Literaturbetrieb den Talenten den Weg und hat sie dann ständig unter Einfluss und Kontrolle, macht aus ihnen Schriftsteller, die nur noch mit Schriftstellern umgehen und schließlich nur noch etwas über Literatur wissen und Literatur herstellen, die sich nur mit sich selbst befaßt. Die alten Griechen, die doch die Demokratie erfunden haben, waren sich vollkommen darüber im Klaren. Ich finde, dies ist heute eine Fehlentwicklung des demokratischen Denkens. Nicht jeder, der sein Foto oder sein Gedicht ins Internet stellt, ist gleich ein Maler oder Dichter. Nicht Texttreue soll hier angemahnt werden, sondern eine Arbeit, die der Genauigkeit vor dem Modischen den Vorzug gibt. Wirkliche Literatur ist eine imaginäre Probebühne, auf der alle Möglichkeiten des menschlichen Lebens – auch und vor allem die Abgründe des Privaten und Katastrophischen – in allen Details durchgespielt und ausfabuliert werden können.

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1943Karl
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19. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 08.06.2008 um 17:52 Uhr

Lieber Matze,
vielen Dank für die ausführliche Entgegnung.
Zunächst einmal staune ich über dein umfangreiches Detailwissen. Hast du Literaturwissenschaften studiert? Oder studierst du noch?
Deiner Auffassung, Literatur sei eine imaginäre Probebühne, auf der alle Möglichkeiten menschlichen Lebens durchgespielt werden können, schließe ich mich gern an. Das was ich im Kleinen (In Literaturgruppen und Literaturforen) beobachtete (siehe meine kurze Glosse "Unter sich") scheint es im "großen" Literaturbetrieb offenbar auch zu geben.
Ich bin seit gut dreissig Jahren als wenig bekannter Autor tätig, der von sich nicht behaupten könnte, eine besonders große literarische Begabung zu sein. Aber ich mühe mich redlich... . Somit fehlt mir echtes Insider-Wissen. Meine Bücher sind bisher nur in Kleinverlagen veröffentlicht worden.
Herzliche Grüße
Karl


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