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Literaturforum: irgendwie feige


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Forum > Sonstiges > irgendwie feige
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 Thema: irgendwie feige
1943Karl
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70. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 26.06.2008 um 09:55 Uhr

Liebe Matze,
wann schläfst du eigentlich. Wenn ich so sehe, zu welchen Zeiten du deine Antworten schreibst...
Was du über Fachleute schreibst, das entspricht auch meinem Denken. Ich denke auch, dass sie ausgespielt haben. Aber es wird noch dauern, bis sie es merken.
Die gefragten Verküpfungskompetenzen sind dann auch für die Essayisten eine echte Chance, die allerdings sehr viel Recherche erfordert. (Wie ich an deinem umfangreichen Hintergrundwissen immer wieder neidvoll sehe.) Leider fehlt mir, da ich meinen Lebensunterhalt noch mit zwei Berufen (selbstständiger Supervisor und angestellter Sozialarbeiter) verdienen muss, ausreichende Zeit. Demnächst werde ich mein Angestelltendasein beenden, da mir inzwischen Rente zusteht. Dann hoffe ich, mich mehr der Schreiberei zuwenden zu können.
Übrigens: Verknüpfungskompetenz. Ich habe ich in Bergisch Gladbacher Kulturszene versucht, in entsprechenden Veranstaltungen Kunstgattungen miteinander zu verknüpfen, z.B. Literatur, Musik, Theater und bildende Kunst.
Dabei ist manche interessante Mischung herausgekommen.
Ja. Manfred Enzensperger kann ich sehr empfehlen... Ich bin gespannt auf dein Urteil.
Gruß
Karl


Bei jedem Irrtum gewinnt die Wahrheit Zeit.
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Matze
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71. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.06.2008 um 05:57 Uhr

Lieber Karl,

das fürchte ich auch:

Zitat:

Ich denke auch, dass sie ausgespielt haben. Aber es wird noch dauern, bis sie es merken.

Im Literatur–Betrieb geht es darum, daß einige vermeintlich kluge Menschen sich auf einen Text einigen, wie beispielsweise bei der so genannten Gruppe 47, die Kritik als „linke Reichsschrifttumskammer“ monopolisiert hat. Daß der dann große Literatur und die anderen Texte schlechte Literatur seien, folgt daraus nicht. Die Gruppenbildung unter Künstlern und Schriftstellern bedarf eines tertium comparationis außerhalb des Ästhetischen. Wer immer sich zusammenschließt, der muß in einem bestimmten Grade von seiner künstlerischen Individualität absehen und etwas tendenziell Außerkünstlerisches zum Gemeinsamen der Gruppenmitglieder und zum Ziel der Gruppenarbeit machen. Und dieses tertium war bei den meisten literarischen Gruppierungen der Vergangenheit ein Politikum. Hans Werner Richter, Feldwebel der deutschen Literatur, hatte bei den Tagungen immer unruhige Augen, die misstrauisch hin- und herscharwenzelten, wie die eines Caesars unter Verschwörern, den Brutus suchend. Die Gruppe 47 schlug die Bresche, durch die eine bis dahin unmündige, sprachlose, vom literarischen Leben ausgeschlossene Schicht in die deutsche Kultur einbrach. Ihre Mitglieder brachten die Erfahrung von Familien mit, die jahrhundertelang von der herrschenden Schicht gedemütigt worden waren. Diese Kulturevolution hob jenes Kleinbürgertum in den Sattel, das bis zum Ende der BRD das repräsentative soziale Milieu dieses Landes geblieben ist. Auch im neuen Deutschland bringen GraSS, Walser und Konsorten ihre Ressentiments gegen die da oben hervor, dazu Bildungsfeindlichkeit und einen anti-elitären Affekt. Diese können aber inzwischen nicht mehr als verständliche Reaktion auf ungerechte Behandlung begriffen werden. Diese Haltung hat sich im Gegenteil im Lauf der Jahrzehnte verwandelt in die pure Heuchelei. Das geistig-politische Kleinbürgertum muß sich nicht mehr vor Schlägen ducken. Es ist hegemonial. Insofern ist auch das ganze habituelle und verbale Vokabular von Rebellentum obsolet und zutiefst unwahr, mit dem das kulturelle juste milieu insgesamt sich immer noch gegen einen Feind aufbäumt, der längst das Schlachtfeld geräumt hat. Die Menage à trois aus Kunst, Politik und Utopie ist Geschichte.

Die heutigen Autoren schreiben nur noch für kommerziell motivierte Lektoren, sie schreiben halbfertige Romane und fragen dann diese Allmächtigen, wie sie weiterfahren oder was sie ändern solle. Wer das Geschäft über das Material stellt, erwirkt schließlich den Tod der Henne, die ihm die goldenen Eier legt. Jedoch wie man sie produziert. Am Beispiel des Prix Goncourt ist belegbar, wie manipuliert wird. Zur Goncourt- und Renaudot-Vergabe erschienen in 2006 zwei Tagebuch-Bände des Literaten und ehemaligen Jurors Jacques Brenner. „Aus der Preisküche“ (La cuisine des Prix, 1980 bis 1993) heißt einer der Bände, der auf über siebenhundert Seiten mit ungewohnter Detailgenauigkeit erzählt, wie es in den Jurys zugeht. Die Publikation von Jacques Brenners „Journal“ ist ein Ereignis - nicht wegen der Bedeutung des Autors, sondern wegen seiner Beispielhaftigkeit dafür, wie Literatur gemacht wird. Der vor fünf Jahren verstorbene Brenner, mit wirklichem Namen Jacques Meynard, war zeitlebens Verlagslektor, hauptsächlich bei Grasset, Literaturkritiker bei wechselnden Medien, Roman- und Sachbuchautor und seit 1986 Mitglied der Renaudot-Jury: ein Modellfall also, wie man in Paris Rollen kumuliert. „Willst du den Großen Literaturpreis der Académie Française oder lieber eine Dienstwohnung ebendieser Akademie?“ - fragt ihn sein Chef bei Grasset: Er könne beides erwirken. Daß die Literaturpreise oft mehr an einen Verlag als an einen Autor gehen, dafür sorgen die vier Dutzend meist auf Lebenszeit als Jurymitglieder ernannten Schriftsteller in den Preiskomitees Goncourt, Renaudot, Médicis, Femina, Interallié. Im ersten Wahlgang stimmen Sie für Ihr Lieblingsbuch, in den folgenden für Ihren Verlag! - lautete die Anweisung des Grasset-Lektoratschefs Yves Berger. Um sich beim Schriftsteller Alain Robbe-Grillet für sein Votum als Médicis-Preisrichter zugunsten des Grasset-Autors Bernard-Henri Lévy zu bedanken, publizierte man 1985 einen „schlechten“ - so Brenners Einschätzung - Erotik-Roman von Robbe-Grillets Frau. Zwei Jahre später notiert der Tagebuchautor nach der Vergabe des Goncourt-Preises an Tahar Ben Jelloun für „Die Nacht der Unschuld“ (Seuil): Die Gegenlobby suchte Guy Hocquenghem durchzudrücken, bis der Schriftsteller Daniel Boulanger auf Ben Jelloun umschwenkte und ausrief: „Er ist Marokkaner, ich stimme für die Frankophonie.“ Namentlich wiedergegebene Stimmvoten und genau bezifferte Zahlungsbeträge an Autoren für geleistete Dienste oder versprochene Manuskripte verrät dieses Tagebuch. Nur notwendige Literatur ist grosse Literatur. Nur das, was ohne alle Rücksicht geschrieben werden muss, schreibt sich ein in den Lauf der Geschichte. Natürlich steht dem die heilige Kunstautonomie entgegen. „L´art pour l´art“ aber gilt entweder ganz oder gar nicht: Kunst als Solipsismus oder Instrument, Ars meditativa oder Ars militans. Genau da, wo Gefahr ist, wächst bekanntlich das Rettende auch. Aus den dunkelsten Epochen leuchten uns die überragendsten Dichtungen entgegen; im Finstern wohnen die Adler. Nichts spricht gegen die historische Einkleidung des Gedankens, aber gefährlich aktuell muss er sein, dieser Gedanke, soll kein Stillleben entstehen. Es ist darüber hinaus nicht sicher, ob jeder Rezensent schon ein Kritiker ist, oder ob aus der Rezension nicht erst dann Kritik wird, wenn sie an Zeittendenzen mitschreibt, ihnen womöglich zum Durchbruch verhilft oder sie wortreich verdammt. Die Literaturkritik ist an einem kritischen Punkt, da hilft die sicherlich sehr richtige Proklamation wenig, daß es doch genug zu kritisieren gäbe. Wer die Literaturkritik renovieren will, muß zunächst begreifen, daß der Verlust des utopischen Zeitempfindens auch den Status von Kritik nicht unbeschädigt läßt. Helfen können Kritiker, wenn er seinen merkwürdigen Beruf als begabter Leser erlangt hat. Aber so ist das oftmals nicht. Der Kritiker ist an seinem eigenen, künstlich hochgezüchteten Raum orientiert. Seine Professionalität ist eine Mimikry an Kennerschaft. Nicht nur, daß der Kritiker keine Kriterien hat (was für neue, also echte Literatur normal ist), er ist auch noch daran interessiert, daß es keine gibt, damit er sie selbst festlegen und als seine Prärogative behandeln kann. Helfen könnte auch der Verleger, der Kritiken in Auftrag gibt, aber er ist zu sehr an Gewinn interessiert und nicht an Mitwirkung. Es steht schlecht um die Literaturkritik, wenn die Literatur schlecht ist. Für den Literaturkritiker ist das Schlechte immer auch eine Chance. Diese Maxime auf die Literaturkritik selbst angewendet, heißt natürlich, daß sie immer neu beginnen muß. Nichts ist so konformistisch und öde wie die Zitate aus der amerikanischen Popkultur, mit der die deutsche Literatur seit Jahren gespickt wird. Bei dieser Art von, nennen wir es Literatur suche ich nach Sprache, und finde nur wasserdichtes Vermeidungssprechen. Dies ist ein eher soziologisch als literarisches Phänomen, da ich mit Poetry–Spam nichts anfangen kann. Dieses Rotzlöffeltum wirkt wie eine nihilistische Paraphrase eines billigen Fünfziger-Hits, „The Beat Generation“. Diese Autoren suchen, wie auch beispielsweise auch Patti Smith, nach einer Kontinuität in vorangegangenen Gegenkulturen und entwerfen mit dem so genannten „Social Beat“ eine Verschärfung der von Beatniks und Bohemiens vorgekauten Thesen. Bei wirklich spannender Literatur ist solcher Trost durch Geschichte jedoch nicht zu haben. Nicht aus der Hölle, einem vertrauten Platz abendländischer Dramen und Kulturkämpfe, sprechen wirklich gute Schriftsteller, sondern aus der absoluten Häßlichkeit der Ware. Von dort gibt es keine Rettung. Auch über die Schreiberlinge, die in Hildesheim oder Leipzig ausgebildet werden läßt sich sagen, daß sie noch nie auf einem breiten Niveau so gut schreiben konnten wie heute, aber so wenig mitzuteilen haben wie nie zuvor. Diese oberflächliche Zeitgenossenschaft hat mit Interpretation und mit Stellungnahme zu einer ohnedies kaum mehr bekannten Tradition nichts zu tun. Es geht es in diesen Berichten weniger um das Literarische an sich – und vielmehr um die Möglichkeit der Identifikation. Diese Art von Texten sind zu abgetrennt vom Leben, auf der anderen Seite wirkt das, was zum Kulturleben so landläufig dazugerechnet wird, wie Versatzstücke, mit denen beliebig gehandelt wird, weil jeder angeblich Kunst machen kann. Und: Nicht jeder kann ein Künstler sein. Die Epigonen in unserer Gegenwartsliteratur sterben nicht aus, nein, sie vermehren sich unablässig. Sie reüssieren auf dem literarischen Markt mit Texten, die schnell erfassbare Oberflächenreize haben, demonstrativ ihre eigene Machart signalisieren und sich bei Literatur–Wettbewerben gut in kleinen Portionen vorlesen laßen. Diese déformation professionelle droht jedem Autor, der sich den autistischen Kommunikationsformen des Literaturbetriebs überläßt. Dann entsteht der Typus des außenorientierten Schriftstellers, der zwar die Kodizes der eigenen Zunft sehr genau kennt, aber über den Tellerrand des Gewerbes nicht mehr hinauszublicken vermag. Früh bahnt der Literaturbetrieb den Talenten den Weg und hat sie dann ständig unter Einfluss und Kontrolle, macht aus ihnen Schriftsteller, die nur noch mit Schriftstellern umgehen und schließlich nur noch etwas über Literatur wissen und Literatur herstellen, die sich nur mit sich selbst befaßt. Die alten Griechen, die doch die Demokratie erfunden haben, waren sich vollkommen darüber im Klaren. Ich finde, dies ist heute eine Fehlentwicklung des demokratischen Denkens. Nicht jeder, der sein Foto oder sein Gedicht ins Internet stellt, ist gleich ein Maler oder Dichter. Nicht Texttreue soll hier angemahnt werden, sondern eine Arbeit, die der Genauigkeit vor dem Modischen den Vorzug gibt. Wirkliche Literatur ist eine imaginäre Probebühne, auf der alle Möglichkeiten des menschlichen Lebens – auch und vor allem die Abgründe des Privaten und Katastrophischen – in allen Details durchgespielt und ausfabuliert werden können.

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1943Karl
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72. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.06.2008 um 16:57 Uhr

Liebe Matze,
jedes Mal freue ich mich, wenn dein Name mir im Forum ankündigt, dass ich wieder eine neue "Vorlesung" zum Thema Literatur und deren Kritik erwarten kann. Auch heute hast du mich nicht enttäuscht. (Das meine ich nicht ironisch. Im Gegenteil.) Ich lerne durch deine Beiträge sehr viel.
Und natürlich kann ich es nicht besser ausdrücken, was wahre Líteratur ist. Ich bin auch der Meinung, dass es durch die Autorenausbildung immer bessere Handwerker gibt, denen leider häufig die Inspiration fehlt. Natürlich muss Literatur an die Abgründe gehen, muss Grenzen überschreiten. In einer Zeit, in der durch Globalisierung einerseits und Einbrüche in die Intimsphäre andererseits Grenzenlosigkeit angestrebt und zunehmend erreicht wird, ist es doch eher nicht angebracht, weitere Grenzen zu beschreiben. Birgt das nicht die Gefahr in sich, die Sucht nach Grenzenlosigkeit weiter anzufachen.
Sind nicht gerade persönliche, aber auch Ländergrenzen Garanten gegen Nivellierung und Vermassung. Verflachen damit die Literatur und die Literaten nicht gerade?
Ich sehe darin ein Dilemma.
(Siehe auch meinen möglicher Weise nicht sonderlich niveauvollen Beitrag "Lebensgeheimnisse" in diesem Forum.)
Auf deine Reaktion bin ich, wie immer, sehr gespannt.
Herzlichen Gruß
Karl


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Matze
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73. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 28.06.2008 um 06:35 Uhr

Lieber Karl,

trotz schöner trister Publikationen tut sich bei den Jungfröschen keine Verleger-Persönlichkeit hervor.

Zitat:

Ich bin auch der Meinung, dass es durch die Autorenausbildung immer bessere Handwerker gibt, denen leider häufig die Inspiration fehlt.

Es sind viele Zeitschriften nach kurzer Zeit wieder verstummt. Das ist eine bedrückende Tatsache. Ich habe aber den Eindruck, die Schnelligkeit hat noch zugenommen und einhergehend damit die Treulosigkeit von Lesern und Literaturbetrieb gegenüber den eben erst erschienenen Zeitschriften. Es gab immer auch eine öde, rein routinemäßige Literaturkritik. Was ich bedaure, ist eher, daß das Fernsehen keinen wirklich produktiven Umgang mit der Literatur zustande bringt. Wenn es einen Niedergang gibt, hängt es wohl mit einem schrumpfenden historischen Bewußtsein zusammen. Man spricht immer mehr nur von dem, was eben vorliegt, ohne es in größere Zusammenhänge zu rücken. Gewiß sind Glaubenskriege in der Literatur heute weniger hörbar. Die jungen Schriftstellerinnen und Schriftsteller empfinden die BRD und ihre Institutionen nicht mehr als Skandalon. Viele Autoren hat man einseitig auf ihre politische Polemik festgelegt. Man sah dann nicht mehr, in welch großartiger Weise sie gesamtheitlich gedacht und geschrieben haben. Die großen Debatten fehlen uns Gewiß nicht – aber es ist nicht Sache der Schriftsteller, die Fragen der Alterspyramide zu lösen oder in ihren Werken die Globalisierung ganz direkt zu thematisieren. Solche Probleme werden so vielfältig in allen Medien abgehandelt, daß die Schriftsteller dazu nichts Neues beitragen können. Ich möchte auch weiterhin gern leidenschaftlich lesen und gerade darum nicht nur mein Vergnügen daran bewahren, sondern darüber auch in einer Art zu reden vermögen, daß meine Lust des Lesens und Nachdenkens ansteckend fortwirkt. Zuweilen kommen dabei orientierungslos mäandrierenden Gedankengänge heraus, immer aber möchte ich ein Plädoyer für das Staunen formulieren. Insbesondere sind es die neuen Gedanken, die eine eigene Flußwille entwickeln, in allen Richtungen eilen, sich untereinander suchen, rufen, paaren, vervielfältigen oder allein auf der Strecke bleiben, von anderen niedertrampeln oder wegblasen laßen. Bis der Hirnwächter in diese Wildnis eingreift, zubremst, Ordnung und Klarheit wiederherstellt. In allem gibt es ein Bedürfnis und ein Streben nach der ursprünglichen Ordnung. Auch das Chaos und sogar das Nichts, mag ich zu glauben, sind nicht vom blinden Zufall regiert. Paradox und Absurdum haben ihre eigene Logik. Der Denkende müßte nur diese chiffre erkennen und das Überflüssige und Streunende entfernen. Erstrebenswert wäre eine Dialektik des Kreatürlichen. Dieser unbändige Gedankenfluß von amonte zu aval, das Rollen mentaler Lawinen, die, erst wenn Verdichtung und die immanente Ordnung eintreten, zum Stehen kommen. Bei Canetti fand ich ein Epigramm, das als Motto für das Mäandern dienen kann. Das Spezialistentum sei, so schrieb dieser in der „Blendung“, die Einschränkung aller Zweifel auf ein Spezialgebiet. Erstrebenswert wäre eine Dialektik des Kreatürlichen. Die Fragen der Vergänglichkeit standen in meinem Fokus und die Erkenntnis, daß die Existenz - als Episode zwischen Nichts und Nichts - dorthin zurückkehrt, von wo sie herkommt.

Zitat:

Sind nicht gerade persönliche, aber auch Ländergrenzen Garanten gegen Nivellierung und Vermassung. Verflachen damit die Literatur und die Literaten nicht gerade?

Das Verhältnis der Neuerscheinungsexegeten zur Poesie ist wie das der Gynäkologen zu der Liebe. Das Literatur steht auf dem Prüfstand, oft wird sie nur mehr als Weltkulturerbe wahrgenommen. Wer sich dagegen auf neuere Diskurse aus Theorie und Politik einläßt, sprengt schnell den Rahmen. Im Literaturbetrieb gibt es so viele Platzhirsche, daß das eifersüchtige Dauergezänk zur üblichen Verkehrsform zwischen den Akteuren geworden ist. Die sich vorwagen von der nonkonformistischen Generation werden isoliert, weil die Kultur ein Netzwerk ist. Da gibt es Kartelle, die sich gegenseitig in Schutz nehmen und gegenseitig loben, und andere ausgrenzen. Und es gibt wirklich wenige unabhängige Menschen. Das Leben ist der Platzhalter für das Unbehagen an einer Literatur und einer Literaturbetrachtung, die weniger dem Professoralen huldigen als dem Populären. Die deutsche Literaturkritik schielt immer noch auf das Germanistikseminar. Wer Literatur und Leben allerdings als zwei widerstrebende Kräfte ansieht, steckt hüfttief in der Tradition der Romantik. Das Label ´Weltliteratur´ ist zum Synonym für literarische Werke geworden, die über das heimische Sprachgebiet hinaus Gemeingut der gebildeten Menschheit geworden sind. Eine Kritikerkaste hat nach dem 2. Weltkrieg eine Art von Literatur auf das Podest gehoben, die den Schriftsteller zum zeigefingerreckenden Oberlehrer, zum Staatsanwalt oder zum Psychoanalytiker macht. Der Autor entschwebt der irdischen Sphäre, man überreicht ihm für die erhabene Unlesbarkeit ihrer Werke den vom Erfinder des Dynamits gestifteten Preis. Es gibt viele Literaturpreise, große, kleine, bedeutende, weniger bedeutende, gut und weniger gut dotierte. Die großen Preise bekommen die Großen, die kleinen die Kleinen und die ganz Großen bekommen fast jeden Preis. Von den großen Schriftstellern, die für ihr Werk belohnt werden, fällt immer auch Glanz auf die Preisrichter, weniger Prominenten Preise zu verleihen, ist deshalb weniger beliebt. Geschmückte und Schmückende, meist schon fortgeschritteneren Alters, geht es um Renommee, Belohnung für bereits getane Arbeit und zu selten um die Förderung junger Begabungen. Der Lohn der Poesie ist nicht Ruhm oder Erfolg, sondern ein Rausch – daher sind so viele schlechte Künstler nicht imstande, davon zu laßen. Mittlerweile aber ist man sich darüber einig, daß keine in sich schlüssige und umfassende Definition von Poesie zu erwarten ist, sondern daß es wohl bei vereinzelten, wenn auch faszinierenden und durchaus weiter vermehr– und vertiefbaren Einblicken in das, was Poesie auszeichnet, bleiben muß. So etwas wie ein konsistentes, anhand von bestimmten Eigenschaften beschreibbares Wesen der Poesie scheint es nicht zu geben. Sowohl der formale Zwang alphabetischer Ordnung wie auch die selbstverständliche Forderung nach faktographischer Genauigkeit können mit der Poesie unterlaufen werden, um die Wörter aus ihrer konventionellen Begrifflichkeit herauszulösen, ihnen neues Leben einzuhauchen. Poesie ist gefährlich, weil sie an die Sprengsätze der menschlichen Existenz rührt, den Leser mit Erfahrungen konfrontiert, die er in den Routinen und Begrenzungen seines alltäglichen Lebens gewöhnlich zu vermeiden versucht. Das Bedürfnis, einen Niedergang in Sprache auszudrücken, beflügelt die Dichtkunst seit je. Von Homers Epen über Shakespeares Tragödien bis zu Brechts Lyrik spannt sich ein Bogen, der dem Leser signalisiert: Das Dasein ist voller Haß, Bosheit, Intrige, und am Schluß steht der Untergang.

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JH
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74. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 28.06.2008 um 18:34 Uhr

Diese Nachricht wurde von JH um 18:35:40 am 28.06.2008 editiert

Zitat:

Es sind viele Zeitschriften nach kurzer Zeit wieder verstummt.

Was sicherlich auch den Grund hat, dass jeder meint, er müsse etwas schreiben. Monokulturen verrecken immer.

Zitat:

Das ist eine bedrückende Tatsache. Ich habe aber den Eindruck, die Schnelligkeit hat noch zugenommen und einhergehend damit die Treulosigkeit von Lesern und Literaturbetrieb gegenüber den eben erst erschienenen Zeitschriften.

Wenn es mehr Leser gibt, gibt es auch mehr Schnelligkeit, gibt es auch immer mehr Zeitschriften und immer mehr Verstummen.

Zitat:

Es gab immer auch eine öde, rein routinemäßige Literaturkritik. Was ich bedaure, ist eher, daß das Fernsehen keinen wirklich produktiven Umgang mit der Literatur zustande bringt.

Das schafft das Fernsehen auch mit dem Krieg und der Armut nicht. Was Fernsehen und Literatur aber verbindet ist der Markt, die Schnelligkeit, die absolute und ihre Existzenz bedingende Oberflächlichkeit. Mehr Menschen = mehr Geschwindigkeit = mehr Oberflächlichkeit. Dazwischen noch rumkritisieren wollen - das können die, welche nichts anderes tun, oder aber die, welche stehenbleiben.
Wie mit der Grippeimpfung den Stamm zu treffen, hoffen diese, dass sie mit ihrem Schreiben gerade das Interesse erwischen

Da haben sie sogar Glück - bei der Menge an Menschen / Kunden, braucht man nur reinstechen und trifft garantiert irgendeine Gruppe / Markt. Meist sind es allerdings Stereotypien (d.h. statistisch überwiegende Menge), wie z.B. Holocaust, Bergwanderführer usw...

Zitat:

Wenn es einen Niedergang gibt, hängt es wohl mit einem schrumpfenden historischen Bewußtsein zusammen.

Die Menschheit hat kein Rassengedächtnis. Wohl aber Bücher und andere Medien. Sie sollen unser Speicher werden. Gleichzeitig ist dieser Speicher ein Markt.

Zitat:

Man spricht immer mehr nur von dem, was eben vorliegt, ohne es in größere Zusammenhänge zu rücken.

Allerdings nur, wenn es den Renditenzielen entspricht.
Man nennt dies Schnelligkeit.

Zitat:

Viele Autoren hat man einseitig auf ihre politische Polemik festgelegt.

Schuld tragen Schulen und Unis. Die Bildungsverbrecher der Jahrhunderte.

Zitat:

Man sah dann nicht mehr, in welch großartiger Weise sie gesamtheitlich gedacht und geschrieben haben.

Wer könnte das wohl erfassen? Kevin an der Bushaltestelle? Miriam im Schlecker? Ich an der Waschmaschine?

Was wird beklagt?

Dass Literatur zu allen spricht und nicht mehr zu denen am "Hofe"? Die Schopenhauer-Schiller-Goethe-Jahre sind insofern vorbei. Übrig bleiben ihre Buchrücken im zweiten "Hier klicken für größeres Bild" auf amazon.de
Zu recht übrigens. Denn diese ganzen großen Namen sind nichts weiter als Monokultur.

Zitat:

Die großen Debatten fehlen uns Gewiß nicht – aber es ist nicht Sache der Schriftsteller, die Fragen der Alterspyramide zu lösen oder in ihren Werken die Globalisierung ganz direkt zu thematisieren.

Aus dem Land der "Denker" wurde das Land der "Debatierer". Dann wieder das Land der "Denker und Debatierer" (Studien, Institute, Proklamationen um der Proklamationen willen) und schließlich wurde alles ein grüner klebriger Brei, bestehend aus Mega-Monokulturen auf der Überholspur zu sich selbst - die Terrabitbombe.

Ich sehne mich nach Beatty aus Fahrenheit 451. Der müsste mal aufräumen.

Zitat:

Solche Probleme werden so vielfältig in allen Medien abgehandelt, daß die Schriftsteller dazu nichts Neues beitragen können.

Es zeigt sich endlich wozu sie im Stande sind.
Schluss mit dem Bild, sie seien irgendwie zu etwas im Stande.

Zitat:

Ich möchte auch weiterhin gern leidenschaftlich lesen und gerade darum nicht nur mein Vergnügen daran bewahren, sondern darüber auch in einer Art zu reden vermögen, daß meine Lust des Lesens und Nachdenkens ansteckend fortwirkt.

Genau hier ist das Problem Matze.

Das alles kannst du und du wirst / hast deine Gruppe, deine Minderheit gefunden. Jeder kann das, jeder kann glücklich werden.
Aber das Gesamte ist Schrott.

Verleger wollen dass Du und Ich was zu lesen haben und nachdenken. Das werden wir immer finden. Aber all das ist Schrott.
Wir sind nichts besonderes, wir sind nur Markt.

Zitat:

Zuweilen kommen dabei orientierungslos mäandrierenden Gedankengänge heraus, immer aber möchte ich ein Plädoyer für das Staunen formulieren.

Unsere Literatur dient nur einem Zweck:

Das Bedienen einer äußerst banalen Erwartungshaltung verschiedener Minder / Mehrheiten. Das ist der tückische Gag. Weil jeder zufrieden sein will.

Selten etwas, das so einschlägt, dass es kracht. Gab es das überhaupt? Das Gedächtnis ist äußerst knapp.
Selten etwas, das überrascht und verstört.
Allerdings bitte mit etwas Humor, nicht so wie der langweilige Sartre.
Daher lese ich Kobo Abe.

Es sind gerade die Unbekannten, nicht gelesenen, ja nicht mal im Antiquariat auffindbaren Autoren.

Zitat:

Insbesondere sind es die neuen Gedanken, die eine eigene Flußwille entwickeln, in allen Richtungen eilen, sich untereinander suchen, rufen, paaren, vervielfältigen oder allein auf der Strecke bleiben, von anderen niedertrampeln oder wegblasen laßen.

Gut, Bildsprache.
Ausgehend vom Meer allerdings, das "Markt" "Rahmenbedingungen" und "Rendite" heißt.

Zitat:

Bis der Hirnwächter in diese Wildnis eingreift, zubremst, Ordnung und Klarheit wiederherstellt.

Das gibt es nicht. Vielleicht irgendwann die Gedankenpolizei aus 1984 oder ein Implantat von neurosky.com - es gibt keine festen Regeln für uns, wir müssen nicht leiden. Es gibt nur die Befriedigung, die Zufriedenheit, glücklich sein. Das ist unser aller Unglück. Und gerade in "unwichtigeren" Bereichen wie Literatur und Kunst, wird das als erstes polarisiert.

Zitat:

In allem gibt es ein Bedürfnis und ein Streben nach der ursprünglichen Ordnung.

Glaub ich nicht. Ich denke allem liegt pures Chaos zugrunde. Alles besteht weder aus Molekülen noch Atomen - sondern aus Wellen.

Zitat:

Auch das Chaos und sogar das Nichts, mag ich zu glauben, sind nicht vom blinden Zufall regiert. Paradox und Absurdum haben ihre eigene Logik.

Glaube ich nicht. Eher nur bis zu einem gewissen Grad. Wäre Paradox und Absurdum so abhängig - wären sie eine Monokultur für sich und nicht lebensfähig.

Zitat:

Der Denkende müßte nur diese chiffre erkennen und das Überflüssige und Streunende entfernen.

Meiner These nach beißt sich die Katze spätestens hier in den Schwanz. Denn nur Fehler (siehe das Entstehen von Stämmen beim HI Virus oder der Influenza) und Chaos erschaffen in Wahrheit neues.

Wenn nur für das Staunen selektiert wird, werden wir alle Staunen und es wird uns entsetzlich langweilig. Zusammenfassungen von Zusammenfassungen von Zusammenfassungen.

Zitat:

Erstrebenswert wäre eine Dialektik des Kreatürlichen. Dieser unbändige Gedankenfluß von amonte zu aval, das Rollen mentaler Lawinen, die, erst wenn Verdichtung und die immanente Ordnung eintreten, zum Stehen kommen.

Wie die Erzählung "The Bet" von Kobo Abe: Ein Architekt hat den Auftrag den Grundriss einer Werbefirma 32mal zu überarbeiten. Das Ganze ist selbst ein einziger Werbefeldschachzug - im Gebäude hocken Angestellte vor allen möglichen Dingen: Legobausteine, Tomate, Bild vom Traktor usw... Dazu sagen sie immer ein Wort in ein Mikrophone - das wird gesammelt - weitergeleitet - daraus werden Sätze - schließlich Werbeideen für Produkte.
Aber du schreibst vom Kreatürlichen, also noch mehr selektiert.

Zitat:

Bei Canetti fand ich ein Epigramm, das als Motto für das Mäandern dienen kann. Das Spezialistentum sei, so schrieb dieser in der „Blendung“, die Einschränkung aller Zweifel auf ein Spezialgebiet. Erstrebenswert wäre eine Dialektik des Kreatürlichen.

Bitte erklären. Ich nix verstehe, nur vermute. Das nix gut.

Zitat:

Die Fragen der Vergänglichkeit standen in meinem Fokus und die Erkenntnis, daß die Existenz - als Episode zwischen Nichts und Nichts - dorthin zurückkehrt, von wo sie herkommt.

Das macht nur dein Bewusstsein, zwecks Unterscheidung - Unterscheiden ist durch die Menschheitsgeschichte ankonditioniert.

Zitat:

Das Verhältnis der Neuerscheinungsexegeten zur Poesie ist wie das der Gynäkologen zu der Liebe. Das Literatur steht auf dem Prüfstand, oft wird sie nur mehr als Weltkulturerbe wahrgenommen. Wer sich dagegen auf neuere Diskurse aus Theorie und Politik einläßt, sprengt schnell den Rahmen. Im Literaturbetrieb gibt es so viele Platzhirsche,
(...)

Und zwar historische (Schiller & Co) wie auch lebende. Genau das beklage ich auch.

Zitat:

(...)daß das eifersüchtige Dauergezänk zur üblichen Verkehrsform zwischen den Akteuren geworden ist. Die sich vorwagen von der nonkonformistischen Generation werden isoliert, weil die Kultur ein Netzwerk ist.

ein Markt ist. Ein Markt zwischen Monopolisten & Think Tanks.

Zitat:

Da gibt es Kartelle, die sich gegenseitig in Schutz nehmen und gegenseitig loben, und andere ausgrenzen. Und es gibt wirklich wenige unabhängige Menschen.

Überall. In der Forschung sind 80% in der EU von der Industrie bezahlt.

Zitat:

Das Leben ist der Platzhalter für das Unbehagen an einer Literatur und einer Literaturbetrachtung, die weniger dem Professoralen huldigen als dem Populären.

Das Land der Dichter und Denker besteht aus Professoralen Wiederkäuern.

Zitat:

Die deutsche Literaturkritik schielt immer noch auf das Germanistikseminar. Wer Literatur und Leben allerdings als zwei widerstrebende Kräfte ansieht, steckt hüfttief in der Tradition der Romantik. Das Label ´Weltliteratur´ ist zum Synonym für literarische Werke geworden, die über das heimische Sprachgebiet hinaus Gemeingut der gebildeten Menschheit geworden sind. Eine Kritikerkaste hat nach dem 2. Weltkrieg eine Art von Literatur auf das Podest gehoben, die den Schriftsteller zum zeigefingerreckenden Oberlehrer, zum Staatsanwalt oder zum Psychoanalytiker macht. Der Autor entschwebt der irdischen Sphäre, man überreicht ihm für die erhabene Unlesbarkeit ihrer Werke den vom Erfinder des Dynamits gestifteten Preis. Es gibt viele Literaturpreise, große, kleine, bedeutende, weniger bedeutende, gut und weniger gut dotierte. Die großen Preise bekommen die Großen, die kleinen die Kleinen und die ganz Großen bekommen fast jeden Preis. Von den großen Schriftstellern, die für ihr Werk belohnt werden, fällt immer auch Glanz auf die Preisrichter, weniger Prominenten Preise zu verleihen, ist deshalb weniger beliebt. Geschmückte und Schmückende, meist schon fortgeschritteneren Alters, geht es um Renommee, Belohnung für bereits getane Arbeit und zu selten um die Förderung junger Begabungen. Der Lohn der Poesie ist nicht Ruhm oder Erfolg, sondern ein Rausch – daher sind so viele schlechte Künstler nicht imstande, davon zu laßen. Mittlerweile aber ist man sich darüber einig, daß keine in sich schlüssige und umfassende Definition von Poesie zu erwarten ist, sondern daß es wohl bei vereinzelten, wenn auch faszinierenden und durchaus weiter vermehr– und vertiefbaren Einblicken in das, was Poesie auszeichnet, bleiben muß. So etwas wie ein konsistentes, anhand von bestimmten Eigenschaften beschreibbares Wesen der Poesie scheint es nicht zu geben. Sowohl der formale Zwang alphabetischer Ordnung wie auch die selbstverständliche Forderung nach faktographischer Genauigkeit können mit der Poesie unterlaufen werden, um die Wörter aus ihrer konventionellen Begrifflichkeit herauszulösen, ihnen neues Leben einzuhauchen. Poesie ist gefährlich, weil sie an die Sprengsätze der menschlichen Existenz rührt, den Leser mit Erfahrungen konfrontiert, die er in den Routinen und Begrenzungen seines alltäglichen Lebens gewöhnlich zu vermeiden versucht. Das Bedürfnis, einen Niedergang in Sprache auszudrücken, beflügelt die Dichtkunst seit je. Von Homers Epen über Shakespeares Tragödien bis zu Brechts Lyrik spannt sich ein Bogen, der dem Leser signalisiert: Das Dasein ist voller Haß, Bosheit, Intrige, und am Schluß steht der Untergang.

Klingt als Antowrt frech, aber ich stimme zu.


MASSONI
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Matze
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75. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 28.06.2008 um 18:52 Uhr

Es kann natürlich sein, daß man im Literaturbetrieb besonders eifrig das macht, was Autoren gern machen: einen Berg von Sprachgeröll und Handlungswust vor sich aufzubauen, nur damit sie ihn dann mühsam wieder abtragen können. Literatur als Baggerarbeit. Für die Poesie hat man dann natürlich keine Kraft mehr. Die Krise der Intelligenz ist auch eine Krise des Buches, und es stelle sich die Frage, ob das Buch seinen alten Platz als Träger der Erkenntnis behaupten wird. Auch jene, deren Publikation unbehindert geblieben ist, erreichen nur einen kleinen Teil der Leser, für die sie bestimmt und die ihnen bestimmt sind.

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JH
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76. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 28.06.2008 um 19:31 Uhr

Hm, es wird wohl seinen Platz behalten. Aber nicht seinen Status, wenn es um das Festhalten von Wissen geht. Ein Buch ist aber noch mehr. Es ist nicht so manipulierbar. Es steht nach 20 Jahren immer das Gleiche drin. Das ist hier "edit" anders.


MASSONI
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1943Karl
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77. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 28.06.2008 um 19:44 Uhr

Lieber Matze, lieber JH,
wenn ich jetzt auf alle eure Thesen einginge, ging ich vermutlich an Überforderung ein.
(Blöder Kalauer - Entschuldigung)
Grundsätzlich meine ich, dass wir Menschen als Individuen jeweils polar angelegt sind. Wir sind feige und mutig, dumm und intelligent, geizig und freigebig etc. Und wir können versuchen zu entscheiden, wie wir uns zwischen diesen Polen jeweils bewegen wollen. So wird möglicher Weise aus dem (kreativen) Chaos eine von Entscheidungen immer neu zu schaffende Ordnung.
Daher liebe ich auch das Mäandern als eine Form zwischen Polen suchender Schreibart, die diaologisch von Assoziation zu Assoziation Erkenntnisse produzieren kann.
Übrigens ich fand die siebiziger und achtziger Jahre mit ihren vielen alternativen Literaturzeitschriften, von denen einige sicherlich auch diesen Gattungsbegriff nicht verdienten, äußerst anregend.
Und unser Auseinandersetzung hier in diesem Forum regt mich natürlich auch sehr an.
Daher meinen Dank an euch und ganz herzliche Grüße
Karl


Bei jedem Irrtum gewinnt die Wahrheit Zeit.
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Matze
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78. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 28.06.2008 um 23:52 Uhr

Diese Nachricht wurde von Matze um 23:57:32 am 28.06.2008 editiert

Zitat:

Übrigens ich fand die siebiziger und achtziger Jahre mit ihren vielen alternativen Literaturzeitschriften, von denen einige sicherlich auch diesen Gattungsbegriff nicht verdienten, äußerst anregend.

Wenn man registriert, was auf dem Buchmarkt ´geht´ und was nicht, muß man konstatieren, daß das Lesen als Kulturtechnik überschätzt wird. Allein in den vergangenen 50 Jahren sind mehr Bücher publiziert worden, als in den 5000 davor, seit Erfindung der Schrift durch die Sumerer. Nur die wenigsten Bücherhaben das Zeug zu Longsellern wie die Bibel. Die Situation des Buches hat sich derart zugespitzt, daß es fraglich zu werden beginnt, ob das Buch seinen alten Platz als Träger wissenschaftlicher Erkenntnis behauptet. Hinzukommt, daß der gedachte Notstand durchaus nicht mit einer Abnahme Literatur zusammenfällt; vielmehr wird der qualitative Ausfall in vielen Ländern begleitet von einer Überproduktion zweifelhaftester Art. Die meisten Bücher entspringen heute dem allgemeinen Konsensdenken. Statistisch gesehen erscheint in Deutschland jede Stunde ein Buch, etwa zwanzig Bücher pro Tag, Nachauflagen nicht mitgerechnet. Da kann nicht in jedem etwas Neues stehen. Den meisten Büchern genügt als Daseinsbehauptung die Gewißheit, daß vor ihnen andere Bücher erschienen sind und nach ihnen andere kommen werden. Bücher stoßen sich welpengleich gegenseitig in die Welt. Ihre Verfallsfristen unterliegen einem rasanten Verkürzungsprozess. Heutige Autoren leben in der Regel etwas länger als ihre Bücher. Verlage haben das erkannt. In Zeiten schwindender Erlöse fühlen Verlage sich in Zugzwang. In diesen Zeiten nehmen sie das, was ihnen am Teuersten ist, und versilbern es: Kompetenz und Glaubwürdigkeit ihrer Redaktionen. Der Literatur–Betrieb, eine Welt im Kleinen, ein Makrokosmos, in dem die große sich spiegelt, abbildet, überprüft und wiederfindet. Beispiele für Autor–Aggressionen sind Legion, von Goethes Ausruf "Schlagt ihn tot! Er ist ein Rezensent!" bis Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers". Es war 1968 auf der Veranstaltung "Autoren diskutieren mit ihren Kritikern" in Köln, als der damals 28–jährige Autor Rolf Dieter Brinkmann aufstand und an den Kritiker Marcel Reich–Ranicki gerichtet rief: "Ich sollte überhaupt nicht mit ihnen reden, ich sollte ein Maschinengewehr haben, und Sie niederschießen!" Der Kursverfall der Literaturkritik ist offenbar. Opposition wider die Zeitläufte ruft beim Publikum nur mehr Schulterzucken hervor, Gesellschaftsanalysen provozieren verhaltenes Gähnen. Die Pluralisierung der Lebensstile hat auch die Autorität des Kritikers erfaßt – sein Standort gilt bloß noch als einer unter vielen. Das Genre der Kritik ist nicht erneuerungsfähig. Es ist eine Königsdisziplin, weil man hier im gleichen Medium arbeitet, im besten Fall fast semi–literarisch, Sprache reagiert auf Sprache, Text auf Text. Literaturkritik sollte nicht in erster Linie ein PR–Instrument, sondern ein Vehikel sein, um ein Gespräch über Literatur im Umfeld einer Zeitgenossenschaft in Gang zu bringen und zu halten. Der Platz für die Literaturkritik schrumpft auf eine Schwundstufe des ästhetischen Urteils. Und der wenige, der übrig bleibt, soll verstärkt "Service–Charakter" haben, also weniger intellektuelle Reflexion beinhalten, sondern mehr "nützliche Information" für den Leser. Eine Rückbesinnung der Literaturwissenschaft auf das Biographische ist zu beobachten, auch wenn in diesem "Biographismus" die bewährten Erkenntnisse, allem voran der Psychoanalyse, der Medientheorie und des "New Historicism" vergessen werden. Die Biografie ist zur tragenden Säule des Buchmarkts geworden; sie unterwandert die Literatur und resümiert das Beste, was die Sachbücher zu bieten haben. Es ist, als ob das Publikum von einem masslosen Hunger nach geschriebenem Leben befallen sei, einer Art literarischem Kannibalismus. Diskretion und Angemessenheit sind Kategorien, die einer solchen Herangehensweise, die sich "leidenschaftlich" nennt, die "begeistert" sein will, nicht zu Gebote stehen. Stattdessen wird behauptet und geschwärmt. Es ist eine schwierige Kunst, literarische Texte in ihrem Gelingen oder Scheitern nachzuvollziehen und so darzustellen, daß es eine Einladung zum Mit-Denken und Mit-Lesen ist. Aber selbst in den altehrwürdigen Literaturressorts ist eine Tendenz zu beobachten, die Analyse durch Superlative, durch Ranschmeissen zu ersetzen. Schriftstellernähe und Literaturferne gehen dabei paradoxerweise ein Bündnis ein. Ein Kritiker von Rang lebt von seiner Rätselhaftigkeit, seinen Überraschungen, seiner Unbestechlichkeit. Er reduziert Kultur nicht auf den Wohlfühlfaktor.

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Der_Geist
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79. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 29.06.2008 um 17:55 Uhr

Sollte mir jemand meine Bücher nehmen wollen, guillotinierte ich ihn. (Ersatzweise: Vergiften oder Schienbeintreten bis zum Exitus)

Da könnten selbst Honore noch so plärren.

Interessantes zum Thema hier.
(Unter Aktuelles, Ein paar Anmerkungen zu "Neid".)
Lesensreizend, nachdenkwürdig, einfach mal wieder fein ins Haifischbecken geworfen. Danke, Frau J.

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