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Literaturforum: irgendwie feige


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Forum > Sonstiges > irgendwie feige
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 Thema: irgendwie feige
1943Karl
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60. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 22.06.2008 um 18:08 Uhr

Lieber Matze,
Literatur hat doch immer (auch in der Antike) die allgemein menschlichen Themen Trauer, Liebe etc. auf dem jeweiligen Hintergrund ihrer Zeit "aufgearbeitet". Ich wünschte nur, dass sie heute auch das Thema Kommerzialisierung vor allem zum Inhalt macht, und sich ihm nicht weitgehend unterwirft.
Gruß
Karl


Bei jedem Irrtum gewinnt die Wahrheit Zeit.
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Matze
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61. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 23.06.2008 um 05:59 Uhr

Zitat:

Ich wünschte nur, dass sie heute auch das Thema Kommerzialisierung vor allem zum Inhalt macht, und sich ihm nicht weitgehend unterwirft.

Das wird sich noch erweisen. Ein kleiner Rückblick: Die Philologie ist als universitäre Disziplin in der Krise wie nie zuvor, zerknirscht fragten sich die Germanisten, ob ihr Fach überhaupt noch einen Gegenstand hat. Vor drei Jahrzehnten haben fortschrittliche Germanisten und Kritiker daran gearbeitet, herkömmliche Dichotomien zu Fall zu bringen: Es sollte keine Grenzen mehr geben zwischen so genannter hoher und so genannter Trivialliteratur. Dieses mehr oder minder erfolgreich durchgeführte Vorhaben rächt sich heute, da die Situation am Literaturmarkt unüberblickbar geworden ist und die Verarbeitung von Werbematerial mehr und mehr an die Stelle kritischer Urteilsbildung tritt. Das Verschwinden von Grenzen und Zuordnungen nützen die Froilenwunder, und wenn sie irgendeine Botschaft jenseits von Girlism und Klamauk haben, dann liegt sie im Ausweis der Ununterscheidbarkeit von Kunst und Kommerz, Original und Kopie, Macht und Widerstand, offizieller Kultur und Underground. Wo Ekstatisches ins beklemmend Hysterische umschlägt winden sich die Girlies in qualvoller Seelenpein. Die Dürstenden werden so heftig von Zuckungen durchgeschüttelt, daß er minutenlang vergeblich versucht, eine Flasche mit dem rettenden Wasser zum Mund zu führen. Kaum erinnert man sich noch an die frühen 1980–er Jahre, an den Widerstand gegen den postmodernen Roman, an Kategorien wie das Authentische, das Negative oder das Plötzliche. Schmerzhaft sind die Erinnerungen an die weinerliche Reflexionsprosa der siebziger Jahre, in der vorzugsweise Studienräte und Schriftsteller mittleren Alters durch Seelenblähungen und Erinnerungslücken gequält wurden. Eine solche diaristische Munterkeit, die fleißig mit Subjektivitäts–Gesten hausieren geht, repetiert nur die flachen Elaborate der Erlebnisdichter aus fernen Zeiten. Die Schwafel–Pose der 1970ger ging über in den Reimhäkelkitsch der 1980er. Zwischen dem Egotrip und der Selbsthistorisierung besteht kaum ein Unterschied. Die Generation der Nach-68er, auch Generation Golf genannt, pflegt den autobiografischen Rückblick. Früh gereift und zart und traurig, umkreisen sie die Jahre ihrer Kindheit, die zu den wirtschaftlich fettesten der alten Bundesrepublik gehörten und ihre Chronisten offenbar ausgesprochen milde stimmen. Es herrscht der Typus des bleichen Sensiblen vor, des hermaphroditischen Träumers, der hoch über den irdischen Banalitäten schwebt. Das Leben hat immer Recht, behauptet die so genannte Popliteratur, und in nachtragendem Gehorsam finden die neuen Debatten nun immer wieder in jenem Zwischenreich statt, wo sich Kunst und Leben mischen. Es herrscht eine Verengung der Perspektive auf das Gängige, die Wiederholung des Erfolgs vom letzten Jahr durch Imitation. Pop zelebriert die Ankunft des Neuen als permanente Selbstfeier. Das fängt bei den Autoren an, geht über die Lektorate und Verkaufsabteilungen in den Verlagen, bis zu den Buchhändlern und den Kritikern und Medien. Jedes Menschenleben hat seine Spezifika, da die meisten Verlage Manuskripte von kreativen Zeitgenossen, die es in einem künstlerischen Genre bereits zu einer gewissen Bekanntheit gebracht haben, selten ablehnen, kreisen auf dem Markt unzählige Memoiren von Halbvollendeten, und man fragt sich, ob sie mit subversivem Augenzwinkern oder vielleicht doch nur aus übersteigertem Mitteilungsdrang in die Öffentlichkeit gebracht wurden. Hierzulande findet Popkultur literarisch vornehmlich auf Stuckrad–Barre–Niveau statt. Die wichtigsten Werke von gefeierten angelsächsischen Pop–Intellektuellen wie Nick Tosches, Peter Guralnick, Stanley Booth, Michael Bracewell, Richard Meltzer oder Nick Kent waren hingegen noch nie in deutscher Sprache erhältlich. Der Druck der Bestsellerlisten und Einschaltquoten, schafft im Unterbewusstsein, eine unangenehme Kombination aus Kommerzfixierung und Opportunismus. Es gibt die Laufburschen der postmodernen Medientheorie, die eine Schreibmaschine zu Brei schlagen und behaupten, sie hätten gerade das Betriebsgeheimnis der Öffentlichkeit gelüftet. Es gibt den Selbstbewirtschafter, der sich am inszenierten Lebensekel labt – ebenso wie den Skandalkasper, der mit Nacktheit den Spießer erregen will, obwohl diese längst Bestandteil der Konsumgüterindustrie geworden ist. Es zieht eine kulturelles Biedermeier herauf: Zusammenhalten, Optimismus zeigen, konkrete Probleme lösen, kein Streit, private Vorsorge verbessern et undsofort. Die Gefahren kommen von draußen und lähmen eher, als daß sie öffentliches Denken und Fantasie hervorbringen. Eigentlich beste Zeiten für Bücher, die nach Hintergründen fragen, latente Kontroversen öffentlich machen, unerwartete, originelle Geschichten auf neue Art erzählen und den Blick über den Zaun werfen. Der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur fehlt Mut zum Widerspruch, rigoroser Subjektivität und gelebter Radikalität – politisch und ästhetisch gesehen. Zu viel nettes, routiniert gut geschriebenes Mittelmaß, das nicht allein die Gegenwart, sondern auch das künstlerische Erbe in zuckrige Schokolade verwandelt. Eine Ausfaltung der Pop–Ironie stellt lediglich der Einsatz für restaurative Anliegen dar, der mitunter die Grenze zum Borderline–Journalismus streift und insoweit selbst eine Grenzüberschreitung wäre. Fakt und Fiktion laßen sich ja nicht nur in ihren Abrechnungen mit der Literatur schwer trennen. Um das Ergebnis zu goutieren, braucht man eine Affinität zu jener sehr deutschen Gegenwartsliteratur, die einerseits ihre Hausaufgaben machen will und andererseits danach trachtet, den Leser für die Pflichtübung zu entschädigen – in diesem Fall mit leicht abstrusem Plot, detailfreudigem Sex und sprachlicher Schaugymnastik. Das ist Schriftstellerlebensgeschichtskitsch auf Kosten der seriösen Literatur. Der Begriff ‚Tour’ hat bei den Pop–Literaten eine neue Bedeutung bekommen. Diese Autoren befinden sich auf einer Art Dauer–Stipendiums–Tournee. Vom Überwintern in der Künstlervilla in Roma, wo sie sechs Monate verbracht haben, reisen sie weiter nach Wiepersdorf, wo sie im dortigen Schloss ein weiteres halbes Jahr verbringen werden. Dauerhaft geförderte Künstler laßen sich die Lebensläufe von ihren Sponsoren vorgeben. Sie verzichten auf etwas, was in der herkömmlichen Künstlerbiografie einmal unverzichtbar war: auf einen eigenen, meist leidvoll durchgestandenen Lebenslauf. Überall packen sie ihren Klapprechner aus und treiben ihre Texte ein Stück weiter. Sie leben bei freier Kost und Logis und bekommen außerdem ein monatliches Salär. Das Problem ist nicht mehr, ob, wie und wie lange ein Künstler mit sich selbst ringt, bis er ein Kunstwerk schaffen kann, sondern, daß der Sozialstaat dem Künstler das Ich–Problem abnimmt und ihm dafür eine Jugendverrentung ins Nest legt. Das, was bei dieser Förderung herauskommt, ist ambitioniertes Mittelmaß. Die Generation Golf und ihre geistigen Trabanten haben eine bestimmte Art Text hervorgebracht, der zwischen Kulturkritik und Autobiografie pendelt, wobei ihr Ich mangels Erfahrungsgrund ohne Kontur blieb. Dies kulturellen Ich–Kritiker schauen sich beim Leben zu und sehen ununterbrochen, was an ihnen generationstypisch ist. Nur auf diesem Feld scheint Aufmerksamkeit, scheinen Geld, Glück und Ruhm noch erreichbar zu sein. Und was ist ein Skandal, wenn nicht die äußerste Verdichtung von Aufmerksamkeit?

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Gast873
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62. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 23.06.2008 um 13:53 Uhr

Zitat:

der Schriftstellerberuf wird Raum akademisch

sehr traurig, übrigens.

das forumgeschwätz als uni-infantile disziplin ist in der krise wie nie zuvor, als literarischer dünnschiss, aber immerhin literarisch. nein! die illusion kann ich getrost nehmen, clownerie und deppengeschreibe kann jeder, aber schreiben nicht, vorausgesetzt man habe was zu sagen.

Gewöhnlich glaubt der Mensch
wenn er nur Worte hört,
es müsse sich dabei
doch auch was denken lassen!
Johann Wolfgang von Goethe

Gruß,
Hyperion

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Matze
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63. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 23.06.2008 um 14:37 Uhr

Zitat:

die illusion kann ich getrost nehmen, clownerie und deppengeschreibe kann jeder, aber schreiben nicht, vorausgesetzt man habe was zu sagen.

Die Kulturpraktik steht nicht solitär da, sie ist Teil einer Gesamtinstallation, zu ihrer Bewertung kann ich genauso gut Vergleiche mit populärkulturellen Medien wie Kino, Fernsehen, Musik herbeiziehen. Es gibt keine E– und U–Kunst mehr, keine high– und low–brow–culture. Literatur muß sich mich nicht mehr bloß an sich selbst messen laßen, sondern in erster Linie an allem andern. Ich muß zuhause nicht die große Bibliothek der Weimarer Klassik stehen haben, um ein Gedicht für mich fruchtbar machen zu können, nein, ich brauche ein Sammelsurium an assoziativ passenden Filmen, Musikstücken, zeitgenössischen Techniken undsofort. Die Vergangenheit und die Geschichte eines Stückes interessiert mich höchstens noch in einem sehr geringen Masse, ist aber für die Verfertigung meiner Kritik nicht wichtig. Ich blicke nicht vor mich und nicht hinter mich, sondern um mich. Kritik im Panoramablick der Globalisierung. Das Leben als Serie von Parallelschicksalen. Die vermeintlich individuelle Figur als Produkt mehrerer Realitätsfragmente. Portfolio–Existenzen. Linearität ist tot. Ein einzelner Song von Phillip Boa ist als Schlüssel möglicherweise genauso wichtig wie der ganze Goethe. Auch die Kritik selbst kann – oder muß – innerhalb dieses Wahrnehmungsgeflechts keine isolierte Existenz mehr führen. Es bleibt das schlichte, aber ehrliche Eingeständnis, daß Kunst und Kritik immer in Symbiose leben, daß es das eine ohne das andere nicht gibt, daß die Kunst Kritik zum Zweck der Öffentlichkeitsarbeit, der Multiplikation, manchmal auch der Skandalisierung braucht, und daß der große Reiz an der Kritik darin besteht, im inspirierenden Nahkontakt mit der Kunst existieren zu dürfen. Alles andere wäre gelogen.

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1943Karl
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64. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 23.06.2008 um 21:44 Uhr

Lieber Matze,
das war ja ein intellektueller Rundumschlag. Und ich meine, so weit ich es beurteilen kann, ist deine Kritik durchaus berechtigt. Was schlägst du vor? Welche Kriterien muss z.B. eine literarisch gute Kurzgeschichte erfüllen. Was erwartest du von einer Erzählung, von einem Gedicht?
Welche Art "moderner" Literatur dir nicht gefällt, vermag ich anhand deiner bisherigen Ausführungen relativ gut erkennen zu können.
Ich bin auf deine Antwort gespannt.
Herzliche Grüße
Karl


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Matze
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65. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 24.06.2008 um 06:30 Uhr

Lieber Karl,

Zitat:

Welche Kriterien muss z.B. eine literarisch gute Kurzgeschichte erfüllen.

Die Kurzgeschichte war ein Reflexionsmodell auf das Industriezeitalter. Eine gute Kurzgeschichte ist sehr selten geworden – oder, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, erinnere ich mich nicht an eine aus den letzten Jahren, die über das hinausgeht, was über Hemingways „In Our Time“.Im alten Griechenland war der günstige Augenblick ein Gott: Kairos, der Moment, in dem Entscheidendes geschieht, was weder vorher noch hinterher so hätte geschehen können. Maetre Bourdieu demonstrierte, was die einen an den anderen auszusetzen haben, an dem Spiel um Distinktionsgewinne teilhat, das die kulturelle Form der aktuellen Klassenkämpfe darstellt. Alles, was Adorno über die Kulturindustrie, über den Kunst– und Musikgeschmack der Massen geschrieben hatte, war als wahrhaft kritische Theorie verloren zu geben. Niklas Luhmann arbeitet scharf Ideen aus, die Freud 1925 über "Die Verneinung" formuliert hatte: einen zentralen Mechanismus der gesellschaftlichen Systembildung. Verneinung, Negation (Kritik) erlaubt, adverse Themen und Informationen ins individuelle Bewußtsein respektive die gesellschaftliche Kommunikation aufzunehmen und zu bearbeiten – die endgültige Vernichtung dagegen folgt der berühmten Hamburger Devise: gar nicht erst ignorieren. Luhmanns Beobachtungen gelten auch für die kulturelle Opposition. Verrisse bereiten die Kanonisierung vor. Seine Beobachtungen haben ein allgemeines Kontingenzbewusstsein befördert, das die ästhetische Kritik gründlich entmächtigt hat. Es ist eben unmöglich, ein Buch, ein Bild, ein Musik– oder Theaterstück, einen Film durch scharfe und genaue Kritik aus dem Wahrnehmungsraum wieder zu vertreiben, im Gegenteil, das sind alles Einbürgerungsmassnahmen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts versteckt sich das Göttliche in den Verehrungsritualen der Pop–Literatur, und auch der Kairos hat hier seinen Ort gefunden. Immer wieder geschieht es, daß aus dem Nichts welche auftauchen, die den richtigen Ton zur richtigen Zeit treffen, und alle wissen plötzlich: Das ist es. Diese Magie scheint zyklischen Gesetzen zu folgen: Manchmal kann ein Prinzip, eine Geste, ein Gefühl nach Jahrzehnten wieder richtig sein, obwohl es zwischendurch ganz falsch war. Doch fassen und in Quartalspläne und Umsatzprognosen eintüten kann man den göttlichen Kairos nicht – zum Leidwesen der Plattenindustrie, die seinen Glanz zu verwalten und in Business zu verwandeln hat. Interpretation muß nicht Reduktion auf Eindeutigkeit sein, sie muß das kunstvoll Verdichtete nicht geschwätzig aufblasen zu ausufernder Redundanz. Sie kann auch die Mehrdeutigkeit bewußt machen und sich als hilfreich erweisen beim Verständnis von Strukturen, die sich gerade nicht ohne Rest auflösen laßen in Sätze der Alltagslogik. Die offene Gesellschaft stößt nicht nur auf Widersacher, die von außen kommen. In ihrer Mitte leben Menschen, die der Offenheit und der damit verbundenen Anstrengungen – unendliche Diskussionen oder verschärfte Selbstverantwortung – müde werden. Die Feinde der Freiheit und die von der Freiheit Überforderten sind es, die mich zu einem Bekenntnis bewogen haben. Ich lege es stellvertretend für die Moderne ab und fordere die Leser dazu auf, es mir gleichzutun. Gewiß, das Bekenntnis ist nicht gerade das typische Medium einer Zivilisation, die den Zweifel, die Skepsis und die Kritik kultiviert hat. Aber, bedrängt von vormodernen Glaubensbekenntnissen, sieht sich auch die Moderne, ohne selbst eine Religion zu sein, dazu herausgefordert, durch öffentliche Artikulation ihrer Prinzipien genau das zu leisten, wozu Glaubensbekenntnisse in der Religionsgeschichte immer gedient haben: Selbstvergewisserung und Grenzziehung. Dabei will mein Bekenntnis zur einen Kultur des Abseitigen keines des unverbrüchlichen Glaubens sein, sondern ein Vermutungsbekenntnis. Dieser Vorsicht entspricht, daß die Selbstvergewisserung nicht in ein – sprichwörtlich stinkendes – Selbstlob abgleiten soll. Für die Zukunft des Westens ist es entscheidend, das Augenmerk auf das Privatleben zu lenken und es als Quelle des Selbstbewusstseins zu erschließen. Die Menschenrechte und den Rechtsstaat zu verteidigen, reicht nicht hin. Ausgeblendet wird dabei dasjenige, wofür unabhängige Literatur gut sein soll, zu welchem Zweck also die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens geschaffen worden sind: nämlich für die individuelle und höchstpersönliche Suche nach Erkenntnis. Nachdem das Steigerungsspiel die Moderne motorisiert und den Horizont der Möglichkeiten ins Unendliche erweitert hat, ist es dringend nötig, an den Fähigkeiten zu arbeiten, die gewonnenen Spielräume mit Sinn und Verstand auszukosten. Die Talente sind dem Menschen zur Glückssuche mitgegeben, sie müssen gepflegt und vermehrt werden, eine Moral der Selbstentfaltung ist erstrebenswert, wenn die Moral der Selbstbezogenheit zu einer Moral wird, die mich anderen verpflichtet.

Zitat:

Was erwartest du von einer Erzählung, von einem Gedicht?

Ein wirklicher Lyriker weiß, daß er der Sprache das Meiste verdankt. Wenn er ihr folgt, folgt sie ihm. Das merkt man auch, wenn man A.J. Weigoni zuhört (ich beziehe mich auf das HörBuch »Gedichte) bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Seine Sprache trägt und treibt, und man wird mitgetragen und mitgetrieben. Jede Einzelheit steht nicht für sich, sondern verweist aufs Ganze, steht in einem Zusammenhang und wird in den Dienst einer umfassenden Ausdrucksintention gestellt. Weigoni artikuliert so, als ob er durch jedes Wort auf den Grund der Bedeutung sieht. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen, der Intellekt mit dem Sinnlichen. Seine Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Aber vor allem ist sie groß, wenn er leise spricht. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann um so schöner wiederzukommen. Nicht nur als Sammler von Sprachblüten ist er eine Gelehrtennatur von idealistischem Fleiß und positivistischem Systemdrang, man muß vor seinem polemischen Talent auf der Hut sein. Weigoni wollte nicht einfach ein weiterer experimenteller Lyriker sein und im Bastelparadies arbeiten, er wollte eine eigene Sprache und hat aus der Analyse der Tradition heraus die Poesie der körperlichen Erfahrung, der Klangrealistik, bei welcher die Energetik des Hervorbringens eines Klangs ebenso freigelegt und existenziell wird wie die Worte und ihr Inneres selber.

Hoffnung auf die Erzählung hatte ich bei der Lektüre im Netz. Doch die so genannte ‚Internetliteratur’ beschert in der elektronischen Kommunikation den Lesern eine Informationsverstopfung, die künstliche Intelligenz geht mit einem Verfall der Fantasie und Intelligenz der Menschen einher. Diese Autoren sind nicht einmal Randfiguren der holzverarbeitenden Industrie. In der Marktwirtschaft ist ihre Literatur ein Sozialfall. Ein Schriftsteller ist jemand, der aus wirklichen Stimmen andere Stimmen heraushört. Das literarische Feld, das durch diese zugleich literarische und politische Gruppierung geprägt war, läßt sich unter dadurch beschreiben, daß seine Zentralfiguren aus ihrem kulturellen Erfolg das Recht zu dissidenten politischen Stellungnahmen ableiteten. In gewisser Weise haben es Publikum, Kritik und Standesorganisationen sogar als den wirksamsten Maßstab des kulturellen Erfolgs gewertet, mit wie abweichlerischen politischen Ansichten man in der öffentlichen Diskussion durchkam, ohne daß einen die eigenen Leute zur Ordnung riefen. Die Autoren sind "Mitarbeiter einer Großindustrie, die hinter einer rational getarnten Kalkulationsmystik ihre Ausbeutung verschleiert", schrieb Heinrich Böll 1969. Unter all den am Produkt Buch Beteiligten ist der geistige Urheber der am schlechtesten Bezahlte. Die singuläre Tätigkeit, die kein anderer leisten kann, wird ökonomisch gesehen am geringsten geschätzt, auch das ist ein Gradmesser für Kultur. Es gilt gegen eine Wand des falschen Bewußtseins anzureden, der Lüge, Leugnung, Unterdrückung, der Spaltung, der Infantilität und zynischen Paralyse, die Kerkerwand des Hochmuts, der erstarrten Potenz, die Glaswand der Unwirklichkeit und die isolierende Wahnwand der Verzweiflung, die zu durchschreiten ist. Literatur zeigt wieder den Entwurf für das, was möglich ist. Wir dürfen die Wörter nicht in Büscheln hinwerfen, so wie sie gerade kommen. Wir müssen Sträuße daraus binden. Ansonsten gehen wir in diesem Ozean aus Wörtern unter. Und anstatt den Zugang zur Kultur zu erleichtern, würde wir ihn nur erschweren. Wenn diese Etüden der Leere gemeint sind, dann hätten die Kritiker Recht, auch wenn es sich um Ausnahmen handelt, nicht selten um Fälle aus der ästhetischen Provinz. Es lohnt sich diesem Affekt nachzugehen, denn in ihm wohnt, wohlwollend formuliert, ein Bedrohungsgefühl, eine symptomatische Furcht. Es ist das Gefühl, daß wir nicht wahllos mit Gedichten, mit Geschichten und Erzählungen verfahren können, weil der Mensch ein selbstinterpretierendes Wesen ist, das ohne Traditionen und Bilder verloren ist. Im Symbolischen steckt etwas von ihm selbst – und wer es zertrümmert, behält nur die negative, die bilderlose Freiheit zurück. Aus der Zerstörung von Harmonien laßen sich neue, zufällige Zusammenhänge konstruieren, welche die diffus versprengte Gleichzeitigkeit der Weltwahrnehmung weit authentischer widerspiegelt und zugleich einem momentanen Gefühl Ausdruck gibt. Es gibt Vater–Sohn–Dramen, Vater–Tochter–Dramen, mit Migranten– und ohne Migrantenhintergrund, Berlin–Romane, Leipzig–Romane, Stipendiaten–Romane, Internats–Romane, von allem etwas, alles beachtlich. Aber richtig begeistert ist niemand. Nicht einmal verärgert. Wir beurteilen Bücher, die sich auf Wirklichkeit berufen, Autobiografien, aber auch "historische Romane" nicht allein nach ästhetischen Maßstäben. Literatur erzählt Fiktionen, erfindet Geschichte und Geschichten. Das Bestreben nach Einfachheit, Halt und Bedeutung wird von Romanen stets besser befriedigt als von der Wirklichkeit. Die Literatur hat eine ethische Aufgabe: Sie hat die ungekämmte, struppige Wirklichkeit zu frisieren, in eine tröstliche Form zu bringen. Niemand würde sie deshalb heute mehr wie einst Platon der Lüge und Täuschung bezichtigen. Was aber, wenn sich die Literatur auf die Wirklichkeit einläßt? Wenn sie reale Geschichte nacherzählen will wie im historischen Roman oder im Drama? Kann sie dann lügen? Maria Stuart und Elisabeth I. etwa waren zum Zeitpunkt ihres Konflikts um einiges älter als bei Schiller – war diese Verjüngungskur nun ein genialer Kunstgriff oder eine Verfälschung der historischen Wahrheit im Dienste des Kitschs?

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1943Karl
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66. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 24.06.2008 um 09:56 Uhr

Lieber Matze,
zunächst herzlichen Dank für deine ausführlichen und äußerst substanziellen Antworten.
Besonders bei Kurzgeschichten und Erzählungen sind deine Erwartungen nahezu (jedenfalls für mich) unerreichbar. Eine Kurzgeschichte in der von dir erwünschten Güte kommt einer Jahrhundertkurzgeschichte gleich, wenn nicht innerhalt eines Jahrhunderts sich die Erwartungen der jeweiligen zeitgenössischen Kritiker ohnehin derart ändern würden. Ähnlich hoch sind deine Ansprüche an gute Erzählungen.
Ein wenig bescheidener und erreichbarer kommen deine lyrischen Ansprüche daher.
Insgesamt denke ich schon, dass es gilt, sich an Idealvorstellungen auszurichten. Aber sie werden Ideale bleiben, die ich als Ideale gern als richtig anerkennen will.
Herzliche Grüße
Karl


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Matze
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67. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 25.06.2008 um 05:56 Uhr

Lieber Karl,

da ich nicht den Anspruch habe, Schriftsteller zu werden, bin ein Amateur, weil in dem Wort Amateur das Wort Amour steckt. Seit sich die Literatur gegen Platons Vorwurf der Lüge verteidigen muß, gibt es eine Geheimabsprache zwischen Autor und Leser, die so genannte Fiktionalität. Darin steht, daß die dichterische Rede den Anspruch auf Wahrheitsbehauptung suspendiert. Solange man nicht behauptet, die Wahrheit zu sagen, kann man auch nicht lügen. Als Aristoteles in Abgrenzung zum platonischen Vorwurf der Lüge sein poetologisches Prinzip der nachahmenden Mimesis begründete, ging es ihm nicht um die Imitation der Umgebung zur Überlistung von Fressfeinden, sondern um eine Zielvorstellung, die sich als Interpretation des Wirklichen durch literarische Darstellung beschreiben läßt. Dieses Konzept, das der abendländischen Literaturauffassung bis heute zugrunde liegt, verlangt von der Dichtung selbstverständlich ein gewisses Maß an realistischer Glaubwürdigkeit. Ebenso offensichtlich ergibt sich daraus die Frage, wie viel historische Faktizität in literarischen Texten notwendig, erwünscht oder erlaubt sei. Mit Sicherheit wird jeder Schriftsteller für sich das Recht in Anspruch nehmen, seine diesbezüglichen Entscheidungen in künstlerischer Freiheit zu treffen.

Zitat:

Ein wenig bescheidener und erreichbarer kommen deine lyrischen Ansprüche daher.

Aber nur ein wenig. Die Ausnahmen finden sich einzig in der Lyrik. In der Prosa sind seit Hans Henny Jahnn und Gertrude Stein ohnehin keine nennenswerten Schritte unternommen worden. Ausgehend von neueren Grammatikmodellen, nach denen nicht das Wort oder das Morphem, sondern der Satz als kleinste kommunikative Einheit der Sprache gilt, muß man von Klopstock und Hölderlin bis in die Gegenwart schauen und lesen, wie sich der poetische Umgang mit Satzstrukturen im Laufe der Zeit gewandelt hat. Poesie ist die Kompositionslehre der Erscheinungsformen des Satzes, um ziemlich souverän auch die seriellen Experimente der Konkreten Poesie und selbst die Lautpoesie als von Satzmodellen abhängige Formen der Dichtung auszuweisen. Den Grad der Avanciertheit bemißt man dabei an der Art und Weise, wie die Texte konventionelle Satzerwartungen unterlaufen und sabotieren. Der subtile Kniff dieser Methode ist, daß über die Konvention auch ein direkter Zeitbezug hergestellt wird. Eine verbißene "Verteidigung der Poesie" liegt mir fern; ich schätze die Flaneure unter den Dichtern. Die Ich–Figuren von Holger Benkel, Francisca Ricinski oder A.J. Weigoni spazieren über Straßen und durch Parks, und dabei widerfährt ihnen allerlei Überraschendes und Ungeheuerliches, das wie beiläufig verdichtet wird. Im Moment einer Geste gestaltet diese Lyriker die Würde des Menschen wie der Kreatur. Zu den Propheten gehören nicht. Ihre Dinge bleiben ganz nüchtern die Dinge und sind doch Metaphern. Aus dem Zusammenspiel von alltäglichen Lebenseinzelheiten und wie nebenbei erwähnter Historie entsteht eine Spannung im Text, die über das Gedicht hinausweist, oft sarkastisch, selten pathetisch, immer paradox.

Zitat:

Insgesamt denke ich schon, dass es gilt, sich an Idealvorstellungen auszurichten. Aber sie werden Ideale bleiben, die ich als Ideale gern als richtig anerkennen will.

Einfach allerdings machen sollte man sich diese Angelegenheit nicht. Zunächst einmal sollte man sich wiesengrundsätzlich über das Verhältnis der Literatur zu ihrem Material wundern, der Sprache. Sklavisch gebunden ist diese an jene. Der US–amerikanische Klassiker Henry David Thoreau war der Ansicht, daß es Bücher gibt, die man "auf Zehenspitzen" lesen müsse. Thoreau forderte damit eine besondere Wachsamkeit der Leser ein sowie die Bereitschaft, sich einem Bedeutungsgehalt gegenüber zu öffnen, der dem flüchtigen oder auch bloß ersten Lesen entgeht. Es kann natürlich sein, daß man im Literaturbetrieb besonders eifrig das mach, was Autoren gern machen: einen Berg von Sprachgeröll und Handlungswust vor sich aufzubauen, nur damit sie ihn dann mühsam wieder abtragen können. Literatur als Baggerarbeit. Für die Poesie hat man dann natürlich keine Kraft mehr. Die Krise der Intelligenz ist auch eine Krise des Buches, und es stelle sich die Frage, ob das Buch seinen alten Platz als Träger der Erkenntnis behaupten wird. Auch jene, deren Publikation unbehindert geblieben ist, erreichen nur einen kleinen Teil der Leser, für die sie bestimmt und die ihnen bestimmt sind. Umso verwunderlicher erscheint eine Art von Reflexionsverweigerung in der Literatur. Während Musik und bildende Kunst, selbst Architektur, sich ständig in einem ästhetischen Diskurs befinden, der die Möglichkeiten des Materials immer wieder mit dem Gestaltungswillen der Künstler, den Projektionen und Utopien abgleicht und so erst einen fortdauernden Begriff von Moderne ermöglicht, verharrt die Literatur behaglich vor einem ästhetischen Horizont aus dem 19. Jahrhundert. Schriftsteller sollten ästhetische Debatten führen, das ist ihr Metier. Jede ästhetische Debatte hat auch moralische und politische Implikationen. Parteigänger muß man deshalb noch lange nicht werden.

Flaubert, der in seiner Gegenwart weder große Sujets noch große Gestalten entdecken kann, konstatiert während der Arbeit an seiner »Education sentimentale«: „La beauté n´est pas compatible avec la vie moderne.“ Mit andern Worten: „Wie kann man erzählen, wenn es nichts mehr zu erzählen gibt?“ Flaubert löst das Problem, das sich ihm zunächst als ein inhaltliches stellt, indem er formale Verfahren entwickelt, die es ihm ermöglichen, die Abfolge von Belanglosigkeiten wiederzugeben, als die ihm das moderne Leben erscheint. Er macht seinen durchschnittlichen Protagonisten zum Perspektiventräger und verzichtet darauf, das Geschehen durch einen Erzähler zu kommentieren. Während Flaubert sein Schreiben noch in der Tradition des realistischen Romans sieht, setzt sich Proust bereits vom Realismus ab, dem er vorhält, statt zur Wahrheit subjektiver Erlebniswirklichkeiten vorzudringen – was seiner Auffassung nach bedeuten würde, diese im Werk zuerst hervorzubringen –, nur die äußere Realität in stereotypen Formeln zu erfassen. Robbe–Grillet, der Wortführer des Nouveau Roman, nimmt diesen Vorwurf auf: Der realistische Schriftsteller richtet sein Schreiben an den Schemata aus, die seine Leser von der Wirklichkeit haben. Deshalb muß der moderne Autor auf herkömmliche Kategorien wie Figur und Geschichte verzichten. Das traditionale Erzählen erscheint hier als eine entleerte Konvention – ein Argument, mit dessen Hilfe sich der realistische Roman der Gegenwart pauschal der Unterhaltungsliteratur zurechnen ließ. Dem als Programmatiker der neuen Schreibweise auftretenden Autor wird man die polemische Zuspitzung seines Arguments nicht verargen.

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1943Karl
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68. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 25.06.2008 um 16:52 Uhr

Lieber Matze,
du bezeichnest dich (in aller möglichen Bescheidenheit) als Amateur. Als Essayist scheinst du mir aber keineswegs amateurhaft zu schreiben. Übrigens amor (in amateur enthalten): Deine Liebe zu einer gewissen (vielleicht schon "verstorbenen")Literatur müsste doch eigentlich ausreichen, Literatur zu schaffen.
Was du über Lyrik schriebst, gefiel mir. Ich liebe auch die Flaneure unter den Lyrikern.
Kennst du Manfred Enzensperger? Wenn ja, würde mich deine Kritik seiner Texte interessieren.
Bis auf Weiteres alles Gute
Karl


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Matze
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69. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 26.06.2008 um 05:58 Uhr

Lieber Karl,

es ist keine Bescheidenheit. In der Bedeutung des Lehnworts aus dem Französischen, wo der "amateur d´ art" den kenntnisreichen, enthusiastischen Liebhaber der Künste meint, bin ich ein Dilettant. Damit möchte ich mich von einem so genannten "Fachmann" unterschieden. Auch Fachfrauen, die ich kennenlernte, halte ich für engstirnig, seelisch unberührbar und inhuman. Der Fachmann hat ausgespielt. Gefragt sind Menschen mit Verknüpfungskompetenz. Vor allem im intellektuellen Bereich.

Zitat:

du bezeichnest dich (in aller möglichen Bescheidenheit) als Amateur. Als Essayist scheinst du mir aber keineswegs amateurhaft zu schreiben. Übrigens amor (in amateur enthalten): Deine Liebe zu einer gewissen (vielleicht schon "verstorbenen")Literatur müsste doch eigentlich ausreichen, Literatur zu schaffen.

Ich wurde als Leser zum Essayisten, und ich war ein Leser aus Notwendigkeit. Das ist die gute Seite meiner prekären Gesundheit. Schon als Kind hatte ich Probleme mit meinen Atemorganen und mußte monatelang das Bett hüten, was furchtbar langweilig war. Also begann ich zu lesen. Wenn man dauernd liest, Geschichten in sich aufnimmt und sich das noch vermischt mit jener Erzähllust, wie sie in meiner Familie herrschte, liegt es nahe, selbst zu schreiben. Ich begann, die Geschichten, die ich las, neu zu als Essay erzählen. Der Essay ist eine Form, die in der deutschen Literaturgeschichte nicht viele Gewährsleute hat. Adorno und Hans Magnus Enzensberger beklagten sich darüber schon in ihren literaturkritischen Essays, die sie zu den wenigen deutschsprachigen Vertretern dieser Gattung machten. Immer wieder haben hier einzelne Autoren Essays geschrieben, wie Thomas Mann, doch eine dichte Tradition wie im angelsächsischen Raum gibt es nicht. Wir haben nicht viel Übung mit dieser Art des Schreibens, die weder Fisch noch Fleisch ist. Der Verlag weiß nicht, ob er den Essay in der Sachbuch– oder Belletristik–Vorschau ankündigt, der Buchhändler weiß nicht, in welches Regal er ihn stellt; und die Kritiker, die Texte in die Schubladen ihrer geistigen Hängeregistraturschränke einordnen wollen, können mit dem essayistischen Ich nichts anfangen, das von sich selbst erzählt, aber offenbar doch etwas Exemplarisches meint. Der Essay ist meine Lebensform, diese Erzählform ist meine Welthaltung, eine durch und durch ironische, die den Mut hat zur Ambiguität und zum Zweifel am Gesagten. Nie sprechen meine Texte von Wirklichkeit als Tatsache, sie legen die Willkür und Widersprüchlichkeit dieses eigenen Verfahrens offen.

Zitat:

Kennst du Manfred Enzensperger? Wenn ja, würde mich deine Kritik seiner Texte interessieren.

Bisher nur Hans-Magnus. Habe mir »Zimmerflimmern« und den Band »Die Hölderlin-Ameisen. Vom Finden und Erfinden der Poesie« vorgemerkt. Schade, daß über solche Autoren selten berichtet wird. Im Feuilleton stört mich seit Beginn des 21. Jahrhunderts die völlige Temperamentlosigkeit. Mir geht es sehr oft so, daß ich nach der Lektüre eines Artikels, egal ob in der SZ, bei der NZZ, der ZEIT, der FR oder dem STANDART, am Ende nicht genau weiß, wie denn nun eigentlich das Urteil ausgefallen ist. Das Feuilleton ist nurmehr für die Frage zuständig, was der Zeitgeist als nächstes macht. Die Voraussagemethoden haben inzwischen durchaus meteorologischen Standard. Der Zeitgeist wehr wohin er will und wird noch eine Weile über dem ruhigen Vergangenheitsmeer verharren, aus dem aber immer intensiver scheinbar erledigte gesellschaftliche Utopien aufsteigen und zu einer Aufladung der Atmosphäre führen. Wo schwimmt mal einer gegen den Strom und sagt beispielsweise über Daniel Kehlmann: "Das ist alles ein großer Irrtum, so gut ist das Buch nicht, daß es 900.000 Auflage haben muß." Das traut sich aber niemand. Seit einiger Zeit ist zu beobachten, daß es zunehmend eine Form der Häme, eine Verunglimpfungskritik gibt, von der auch die großen Feuilletons nicht frei sind. Es geht dabei nicht mehr darum, zu zeigen, warum ein Buch mißfallen hat oder warum es ein möglicherweise mißglücktes Buch sei, das ist ja das gute Recht und meinetwegen auch die Pflicht der Kritik, sondern es kommt zu Verunglimpfungen kompletter Autorenexistenzen. Es steckt ein Machtimpuls dahinter. Man muß einräumen, auch wenn die Kritik an Einfluß auf den Markt verliert, innerbetrieblich ist sie so wichtig wie eh und je, indem sie eine Art Ranking erstellt, und dieses Ranking ist wiederum enorm wichtig für die Reputation der Autoren, und die ist wichtig, wenn es um Stipendien und Preise geht. Da hat die Kritik nach wie vor enorme Macht. Da werden Autoren regelrecht exkommuniziert oder eben geadelt, je nachdem. Der Markt ist hungrig, heißt es. Aber was frisst er, der Markt? Bücher, auf denen das Etikett „Pop“ klebt? Oder welches auch immer?

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